Kapitel 1

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Die wilden Stürme aus Vivaldis Sommer sind das Erste was ich höre, als sich mein Bewusstsein hartnäckig aus dem Schlaf in die Wirklichkeit zurückkämpft.

Durch die Kapuze meines Pullis spüre ich dumpf eine gleichmäßige Vibration an meinem Kopf und ich öffne die Augen. Helles Sonnenlicht scheint von draußen herein und wärmt mein Gesicht, während unablässig die Vegetation in den verschiedensten Grüntönen am Fenster vorbeirast.

Mit einem herzhaften Gähnen hebe ich den Kopf und unternehme einen Versuch, meine mittlerweile schmerzenden weil ungünstig positionierten Gliedmaßen zu strecken – jedoch muss ich gleich darauf feststellen, dass das nicht geht. Meine beste Freundin liegt nämlich auf derart platzeinnehmende Weise auf mir, dass sie mich beinahe gänzlich unter sich begräbt und ein unangenehmes Kribbeln verrät mir, dass mein linker Arm eingeschlafen ist. Was mir dann auch eine ungefähre Ahnung verschafft, wodurch ich letztendlich wach geworden bin.

Leidvoll seufzend bringe ich Vivaldi zum Schweigen und ziehe mir die Kopfhörer aus den Ohren. Nicht einmal ein kleines Nickerchen ist mir vergönnt. Als ob der Schlafentzug der letzten vier Wochen nicht schon gereicht hätte.

„Lou", grummle ich, während ich mit meiner Schulter rucke, auf der sie ihren Kopf platziert hat. „Wach auf."

Louisa zuckt zusammen und fährt so ruckartig hoch, dass ich grade noch ausweichen kann um keine Kopfnuss verpasst zu kriegen.

„Was ist?", nuschelt sie und sieht sich konfus um. „Sind wir da?"

Bei ihrem Anblick kann ich nicht anders, als meine miese Schlaflaune kurz beiseite zu schieben. Ihre normalerweise knapp schulterlangen hellbraunen Haare stehen in wilden Locken nach allen Seiten ab und die riesige Brille sitzt nur noch halb auf ihrer Nase. Mit ihren verschlafenen dunklen Rehaugen schaut sie nun mich an. Ich muss grinsen und schüttle den Kopf. Sie seufzt theatralisch.

„Wie lange dauert das denn noch? Seit der Abfahrt hab ich doch nichts anderes gemacht, außer schlafen. Wie spät isses?" Das letzte Wort geht in einem lauten Gähnen unter.

Schwerfällig angle ich mir mein Handy und schaue nach.

„Gleich halb vier."

Augenverdrehend lässt sich Lou in ihren Sitz sinken, während ich einen erneuten prüfenden Blick aus dem Fenster werfe. Weit und breit nichts als Wiesen und Wälder. Aber die Hoffnung, dass wir bald da sind, habe ich bereits vor gut einer Stunde begraben, als wir die Autobahn verlassen haben. Bei diesen engen Landstraßen kann es ja nur langsam voran gehen.

Müde lasse auch ich mich gegen meine Sitzlehne sinken. Auch, wenn es vielleicht ganz gut ist, den Großstadtrummel mal für eine Woche hinter sich zu lassen, bin ich mir sicher, dass es eindeutig spannendere Ziele für eine Klassenfahrt gibt, als ein Schloss im Schwarzwald. Besonders für eine Zehnerabschlussfahrt. Besonders, wenn man auch noch weiß, dass alle anderen Jahrgänge davor nach Italien, Frankreich oder Spanien gefahren sind, das aber aufgrund von Geldmangel dieses Jahr nicht möglich ist. Vor allem aber, wenn der Geschichtslehrer der Stufe – der ursprünglich überhaupt nicht hatte mitkommen sollen – für das absolut langweiligste Programm verantwortlich ist, das man sich überhaupt vorstellen kann. Ich denke, ich kann in diesem Punkt von Glück reden, mit zwei besten Freundinnen beschenkt worden zu sein, die sich von so einer Neuigkeit nicht den Wind aus den Segeln nehmen lassen. Widerwillig muss ich grinsen und im selben Moment dringt auch schon eine lautstarke Diskussion vom Nachbarsitz an meine Ohren.

„Nick, ich sage es jetzt zum letzten Mal: Es ist beschlossene Sache, die Mehrheit hat dafür gestimmt. Stell dich meinetwegen auf den Kopf, aber beklag dich dann nicht, wenn es nicht hilft. Würdest du jetzt bitte aufhören, mich zu nerven? Danke."

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt