WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1

Kapitel 20

Trotz der vielen Zeit, die mir nach meinem Treffen mit Alex noch bleibt, scheint die Dorfversammlung regelrecht im Zeitraffer näher zu rücken. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ein wenig zu lesen, um mich weitgehend abzulenken, aber wie ich bereits erwartet hatte, war dieser Plan katastrophal nach hinten losgegangen. Die Worte verschwammen auf den Seiten, kaum dass ich das Buch aufschlug und die Gedanken wirbelten nur so durch meinen Kopf. Sie überschlugen sich in allen möglichen Schreckensszenarien und obwohl ich mir einrede, dass ich im Gegensatz zu gestern wenigstens einen Verdacht habe, vibrieren meine Nerven regelrecht, als die ganze Stufe sich im Gemeinschaftsraum versammelt.

Es ist deutlich stiller, als bei der gestrigen Versammlung und alle sehen sich um, mindestens so angespannt, wie ich. Lediglich leises Getuschel zieht durch die kleinen Grüppchen, das jedoch augenblicklich verebbt, als sich Jolina in die Mitte begibt.

Als ich meinen Blick auf sie richte, fällt mir mit einem Mal unsere Unterhaltung von heute Nachmittag ein und ich stelle überrascht fest, dass sie wieder erstaunlich gefasst wirkt. So verzweifelt wie vorhin habe ich sie selten erlebt, aber nun lässt rein gar nichts an ihr mehr auf das schließen, was war. Auch der kleine Zwischenfall mit Louisa scheint vergessen – Jolina steht so selbstsicher und entschlossen da, wie eh und je.

„Guten Abend", beginnt sie. „Willkommen zur zweiten Dorfversammlung. Als Erstes möchte ich, genau wie gestern, mit den Ankündigungen zur letzten Nacht beginnen."

Während sie die Namen vorliest, die in der letzten Spielnacht ausgeschieden sind, bemühe ich mich, mit den Gedanken dabei zu bleiben und nicht schon zur Abstimmung zu springen. Doch meine Aufregung macht das beinahe unmöglich.

Die Wölfe haben, wie ich bereits weiß, Yannick getötet. Aber was ich als Nächstes erfahre, lässt mich doch mit gewissem Interesse aufhorchen: Yannick ist der Jäger. Mein Blick wandert suchend zu ihm. Ich hatte weder Yannick, noch überhaupt die Rolle des Jägers auf dem Schirm gehabt, daher bin ich in erster Linie überrascht. Eine leichte Anspannung mischt sich dennoch darunter, denn der Jäger darf, wie mir dann einfällt, bei seinem Tod jemanden wählen, der mit ihm stirbt. Glücklicherweise wählt Yannick jedoch ein Mädchen aus der 10d – zwar eine Dorfbewohnerin, was in Anbetracht der Tatsache, dass der Jäger ebenfalls zum Dorf gehört, etwas unglücklich gelaufen ist, aber immerhin trifft es weder Alex, noch mich.

Jolina fährt derweil mit ihren Ankündigungen fort:

„Außer den Werwölfen hat diese Nacht noch jemand sein Opfer ausgewählt: Die Hexe hat ihren Todestrank vergeben und der Unglückliche, der ihn bekommen hat, ist Lutz aus der 10d. Und damit, habt ihr gleichzeitig noch eine Sonderrolle verloren, denn...", Jolina hält einen Moment inne und zieht die Augenbrauen hoch. „...Lutz war der Rabe. Was die Hexe betrifft, so hätte die nun noch ihren Heiltrank übrig gehabt – wenn sie noch dabei wäre. Denn die Hexe war Maja."

Ihre Stimme zittert leicht, als sie den letzten Satz ausspricht.

Beinahe sofort geht ein leises Raunen durch die Reihen und meine Augen werden groß. Lutz und Maja hatten beide eine Sonderrolle? In Anbetracht des Gesprächs, das ich vorhin mit Alex hatte, bringt mich das grade erheblich zum Grübeln. Sehr zum Trotz dessen, was ich bezüglich der Sinnlosigkeit dieser Diskussion gesagt habe.

Der Streit zwischen Ida und Maja von gestern bekommt für mich grade eine völlig neue Bedeutung. Wenn Maja und Lutz beide eine Sonderrolle hatten und es bei Idas und Majas Streit um das Spiel ging – hängt die ganze Sache dann vielleicht auch mit ihren Rollen zusammen? Ich seufze. Mir raucht der Kopf von dieser lästigen Denkerei. Was genau ist passiert zwischen den beiden? Was spielt Ida da für eine Rolle? Meine Augen schweifen durch die Menge und als ich Alex' Blick auffange, sehe ich ihm an, dass er grade an dasselbe denkt. Ich zucke die Schultern. Was hat das alles zu bedeuten? Eine Antwort bekomme ich natürlich nicht, aber uns beiden ist klar, dass wir uns früher oder später vielleicht doch noch mal über das Thema unterhalten sollten.