Kapitel 39

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Louisa
3.16 Uhr

Das tiefe Schwarz des Nachthimmels breitet sich über die große Lichtung. Vereinzelt glitzern die Sterne am Firmament, vervielfachen sich, je länger man seinen Blick darauf hält und irgendwann scheinen sie milliardenfach über den Himmel zu tanzen. Lediglich das eisige Silberlicht des Vollmonds hält die unheimliche Atmosphäre aufrecht, die seit Beginn des Nachtspiels überall zu spüren ist. Ebenso, wie die erwartungsvolle und gespenstische Ruhe, die nur durch gedämpftes Gemurmel unterbrochen wird, sowie durch das leise Rascheln von Schritten im taunassen Gras. Nun ist es so weit, denkt Louisa. Das Spiel neigt sich dem Ende zu.

Aufmerksam schweifen ihre Blicke zwischen der Lichtung und den Schatten der Bäume hin und her. Innerhalb der Dreiviertelstunde, in der sie nun hier sitzt, sind immer mehr ihrer Mitschüler zurückgekehrt und auch jetzt kommen einige aus dem Wald. Die Lichtung ist beinahe so voll, wie am Anfang. Viele sind bestimmt nicht mehr übrig. Gleichzeitig beschleicht sie jedoch ein leicht beklemmendes Gefühl, das sich mit jeder Minute verstärkt – Alex und Mirjam sind immer noch nicht wieder da.

Eigentlich weiß sie zwar, dass das noch lange nichts Schlimmes zu bedeuten hat, aber trotzdem. Sie wäre weitaus ruhiger, wenn sie die beiden sicher wüsste. Während sie überlegt, ob ihre Abwesenheit nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, erblickt sie Jolina, die grade dem Letzten aus einer Gruppe von toten Spielern sein Armband abnimmt und dann zu Louisas Überraschung plötzlich auf sie zukommt. Bei ihrem Anblick stutzt sie. Schon von weitem ist die Unruhe in ihrem Blick nicht zu übersehen.

„Lou", wispert Jolina und hockt sich so dicht neben sie, dass Louisa ein Stück zur Seite rücken muss, um sie ansehen zu können. „Hast du Mirjam irgendwann diese Nacht gesehen, als du noch im Wald warst?"

Das unüberhörbare Zittern in ihrer Stimme jagt Louisa ein Prickeln über die Haut. Kurz wirft sie einen Blick zu Rebekka, die immer noch bei ihr sitzt und Jolina mit unverhohlenem Abscheu mustert. Dann schüttelt sie verwirrt den Kopf. „Nein. Ich hab sie, seit das Nachtspiel angefangen hat, nicht mehr gesehen. Warum?"

Bei diesen Worten seufzt Jolina frustriert. „Scheiße", hört Louisa sie murmeln. Dann steht sie auf und sieht sich mit aufgewühltem Blick um.

Louisa rappelt sich ebenfalls alarmiert auf und packt Jolina energisch am Arm. „Was ist los?", fragt sie scharf.

Jolina holt tief Luft und mit einem Mal erkennt Louisa in ihren Augen auch so etwas wie Angst.

„Alex hat mich grade angerufen.", beginnt sie. „Ich konnte ihn nur sehr schlecht verstehen, aber er sagte, dass Mirjam verletzt ist. Sie ist bei ihm."

Mirjam ist verletzt? Für einen Moment ist Louisa sprachlos und nach einer Weile schleicht sich ein kleiner Gedanke in ihren Kopf. Also doch! Deine Sorge war berechtigt – ihre Abwesenheit hat nichts Gutes zu bedeuten! Sie verdrängt es jedoch schnell. Sie muss sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Tief atmet sie durch.

„Hat er gesagt, wo sie sind?"

Doch da schüttelt Jolina verzweifelt den Kopf. „Nein! Ich hab nicht verstanden, was er gesagt hat. Der Empfang war zu schlecht und dann war die Verbindung auf einmal weg!"

Mist! Mit einem Schlucken versucht Louisa diese Nachricht zu verdauen, doch sie kann nicht verhindern, dass Jolinas Unruhe so langsam auch auf sie selbst überspringt und auch Rebekka neben ihr spitzt die Ohren.

„Das hört sich nicht gut an", meint Louisa leise und lässt ihren Blick einmal mehr über die Lichtung schweifen, bevor sie Jolina wieder ins Visier nimmt. „Und was machen wir jetzt?"

Jolina zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich muss auf jeden Fall weiter alles im Auge behalten. Ich will die anderen nicht unnötig beunruhigen, sonst haben wir nachher ein heilloses Chaos."

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt