Kapitel 37

228 37 6
                                    

Mirjam
2.12 Uhr

Der Weg, den ich gewählt habe, ist dunkler, als der Hauptweg, was daran liegt, dass er deutlich schmaler ist und die Bäume am Wegrand das Mondlicht kaum durchlassen. In diesem Teil des Waldes stehen hauptsächlich Nadelbäume – ihre hohen kahlen Stämme, begrenzen den Weg, wie stumme Wächter, während sich ihre Kronen sanft in einer leichten Brise wiegen. Fröstelnd schlinge ich mir die Arme um den Körper. Es ist ein wenig kälter geworden und um mich herum ziehen nun sogar dunstige Nebelschwaden durch die Nacht.

Während ich von einem Strauch zum nächsten Busch und von da aus hinter den nächsten Baum husche, scanne ich meine Umgebung ab und spitze die Ohren und schließlich höre ich ein Rauschen, das mit dem wispernden Geräusch der Fichtennadeln im Wind nichts mehr zu tun hat. Es klingt wie Wasser.

Da erinnere ich mich an die riesige Karte, die mitten im Foyer des Schlosses hängt – sie zeigt das Schloss mitsamt allen Ländereien, die es umgeben – und mir fällt ein, dass der östliche Teil des Waldes von einem Fluss durchschnitten wird. Unschlüssig bleibe ich stehen. Ich bezweifle, dass sich hier jemand aus meiner Stufe aufhält. Also mache ich mich kurzerhand auf den Rückweg.

Nach ein paar Minuten wird das Rauschen auch allmählich leiser und ist nur noch im Hintergrund zu hören. Diesmal mache ich mir nicht so viele Mühe damit, mich versteckt zu halten und benutze den Weg. Die Nebellandschaft um mich herum verschwindet mit jedem Schritt mehr in tiefschwarzer Dunkelheit und je weiter ich gehe, desto mehr macht sich prickelnde Unruhe in mir breit. Mehr und mehr ergreift sie von mir Besitz, bis mir aus unerfindlichen Gründen ein eiskaltes Kribbeln über den Rücken rinnt, das ich jedoch hartnäckig beiseite zu schieben versuche. Aber jetzt, wo es einmal da ist, krallt es sich an mir fest, wie eine Klette und ich werde das Gefühl nicht los, dass vor mir etwas ist. Oder besser gesagt: Jemand. Meine Schritte werden langsamer und meine Augen wandern wieder wachsamer hin und her.

Ich höre Schritte. Ganz deutlich. Auch ein Rascheln und Knistern ist zu hören, wie Füße, die auf Zweige treten und ein Körper, der sich durchs Blätterwerk der Büsche am Wegrand schiebt.

Angespannt starre ich in die Schwärze vor mir, die immer mehr von ihrer Undurchdringlichkeit verliert und schließlich erkenne ich tatsächlich etwas: ein Schatten schiebt sich durchs Unterholz. Und je näher er kommt, desto besser kann ich erkennen, wer das ist und ich bleibe wie festgefroren stehen. Paul!

Als meine Augen ihn jedoch eingehender mustern, schlucke ich. Sein überraschter Blick ist schnell verschwunden und er mustert mich nun mit deutlich verändertem Gesichtsausdruck, als hätte er grade etwas entdeckt, was er lange gesucht hat. Irgendetwas daran lässt in mir von einem Moment auf den anderen etwas zu Eis gefrieren. Er hat mich gesucht, so viel ist klar. Warum, das weiß nur dieses verdammte Spiel.

Dieser Gedanke lässt mich keineswegs länger an Ort und Stelle stehenbleiben. Ohne nachzudenken drehe ich um und renne in die Richtung zurück, aus der ich gekommen bin.

Ich renne schnell, wahrscheinlich schneller, als ich jemals in meinem Leben gerannt bin. Paul nimmt sogleich die Verfolgung auf und auch, wenn ich zuerst glaubte, gut weggekommen zu sein, verringert sich der Abstand zwischen uns zu meinem Entsetzen schon innerhalb der ersten paar Sekunden. Mit aufwallender Angst höre ich seine schnellen Schritte und keuchenden Atemzüge hinter mir und weiß, dass ich kein bisschen nachlassen darf. Ich traue mich auch nicht, ins Unterholz auszuweichen, denn auf dem holprigen und dicht bewachsenen Waldboden würde er mich sofort kriegen. Also bleibe ich auf dem Weg und renne so schnell ich kann. Er darf mich nicht erwischen. Unter keinen Umständen! Denn ich weiß jetzt schon: sollte ich von ihm in einen Kampf verwickelt werden, ziehe ich den Kürzeren – Paul ist mir körperlich haushoch überlegen. Also muss ich rennen.

Ich renne und renne und spüre, wie ich vor lauter Panik und dem vielen Adrenalin immer schneller werde und irgendwann, durch das Rauschen des Windes in meinen Ohren und der Fichten um mich herum glaube ich zu hören, wie sich die Geräusche hinter mir langsam entfernen. Kann es sein, dass Paul die Kräfte schwinden? Ich traue dem Ganzen nicht recht, also verlangsame ich meinen Lauf kein bisschen.

Je weiter ich zurücklaufe, desto mehr verändert sich natürlich auch meine Umgebung und ich erkenne, dass ich nicht mehr weit vom Fluss entfernt bin. Und ebenso gut weiß ich, dass ich nicht mehr sehr weit komme, denn ich laufe gradewegs in eine Sackgasse.

Fast im selben Moment lausche ich noch einmal auf die Geräusche hinter mir und registriere, dass sie verschwunden sind. Ist Paul nicht mehr da? Zu wünschen wäre es jedenfalls, denn lange kann ich nicht mehr. Mit prüfendem Blick schaue zurück, um mich zu vergewissern, dass Paul mir wirklich nicht mehr folgt. Und tatsächlich – ich sehe ihn nicht. Er ist weg.

Als ich das registriere, fühle ich eine Welle der Erleichterung durch meinen Körper schwappen und ich wende mich wieder nach vorn, immer noch zittrig vor Adrenalin. Doch während ich mich zur Ruhe zwinge, spüre ich mit einem Mal, dass ich beim nächsten Tritt keinen Boden mehr unter den Füßen habe und die Erleichterung verwandelt sich in pures Entsetzen.

Das Rauschen des Wassers hat nun eine fast unerträgliche Lautstärke erreicht und ehe ich begreife, was passiert, verliert auch mein anderer Fuß den Halt und ich stürze mit einem lauten Schrei in die Tiefe.

***

Alex

Während es um ihn herum kälter und die Schwärze der Nacht undurchdringlicher wird, folgt Alex immer weiter dem Weg nach Norden. Die hohen Nadelbäume, die nun hauptsächlich seinen Weg säumen erscheinen ihm mit jedem Schritt bedrohlicher, obwohl er alles daran setzt, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Schließlich hält er inne – vor ihm endet der Weg. Oder besser gesagt: er vervielfacht sich. Unschlüssig mustert Alex die drei Möglichkeiten, aus denen er nun wählen kann und sein Blick gleitet am Stamm der alten Eiche empor. Er überlegt. Eine Frage in seinem Kopf wird immer drängender: Soll ich weitergehen? Seit seine Gruppe sich getrennt hat ist ihm niemand mehr über den Weg gelaufen und er glaubt auch nicht, dass sich das ändern wird, wenn er eine der vorliegenden Optionen wählt.

Als er grade beschließt, umzukehren, hört er plötzlich einen lauten Schrei und bleibt wie angewurzelt stehen. Was war das?

Im ersten Moment überlegt er, dass lediglich jemand von einem feindlichen Spieler überrascht wurde und sich erschreckt hat, doch eins hindert ihn daran, einfach zu gehen: Er kennt die Stimme, da ist er sich totsicher. Und ein untrügliches Gefühl verrät ihm, dass etwas Schlimmes passiert ist.

Eine Weile überlegt Alex hin und her, bis er sich doch dazu entschließt, den Weg nach rechts einzuschlagen, aus dessen Richtung der Schrei gekommen ist. Wenn es die Person ist, die er glaubt, dann kann er sich nicht einfach aus dem Staub machen, ohne zu wissen, was passiert ist. Außerdem ist dieses Gefühl, sie finden zu müssen, in den letzten Minuten nicht grade schwächer geworden.

Mit zügigen, jedoch gleichzeitig vorsichtigen Schritten macht er sich auf den Weg, doch als er ein paar Meter gegangen ist, stockt er einmal mehr. Irgendetwas kommt ihm komisch vor.

Hier ist noch jemand, das spürt er. Ganz deutlich.

Grade will er den Weg verlassen und im Schutz des blickdichten Unterholzes weitergehen, da hört er Schritte hinter sich und wirbelt instinktiv herum, um sich in Abwehrhaltung zu bringen. Doch zu spät. Die Überraschung lähmt ihn geradezu und er hat kaum Gelegenheit, sich zu wehren, als er ohne Vorwarnung gepackt und zu Boden gedrückt wird.

_______________________________________

Naa, kommt euch Mirjams Part irgendwie bekannt vor? 😏
Und was glaubt ihr, von wem Alex angegriffen wird?
Ich bin neugierig was ihr so denkt :D
Wenn euch das Kapitel gefallen hat, lasst wie immer gerne ein vote da :)

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt