Kapitel 41

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Louisa
4.37 Uhr

Das blasse Licht am Himmel, das vor einigen Minuten wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, zieht sich wie eine Linie über den Horizont. Als hätte jemand einen Pinsel gezückt, um das schwere Dunkel der Nacht mit einem simplen Strich heller Farbe aufzulockern. Doch so klein die Veränderung in einem Bild auch ist, sie hinterlässt Spuren, ruft Gefühle hervor und kann Verheißungen mit sich bringen. Positive wie Negative. Für Louisa hat der sich aufhellende Horizont eindeutig nichts Gutes zu bedeuten. Schnell wendet sie den Blick ab und richtet ihn vor sich auf den Waldboden. Nachdem Jolina nach Rebekkas Enthüllungen der kompletten Stufe alles erklärt hatte, waren alle sofort bereit gewesen, ihnen zu helfen und Jolina hatte Suchgruppen eingeteilt. Das Ganze war erstaunlich schnell vonstattengegangen. Dennoch war es Louisa wie eine halbe Ewigkeit erschienen, bis sie endlich unterwegs waren. Mit fünfzehn Gruppen waren sie losgezogen, hatten sich im Wald verteilt und sich daran gemacht, jeden Winkel, der auch nur ansatzweise infrage kam, abzusuchen. Anfangs war Louisa voller Tatendrang mit dabei gewesen, doch so langsam ist sie nur noch frustriert.

Seit fast einer Dreiviertelstunde durchkämmt sie mit ihrer Gruppe schon den unteren Teil des Waldes und sie finden einfach nichts. Zuerst hatte Louisa sich an die Hoffnung geklammert, dass sie Mirjam und Alex dort finden würden, wo Paul zuletzt auf sie gestoßen war. Doch da waren sie nicht gewesen. Dann waren sie flussabwärts gegangen, hatten auch den Wald nahe am Ufer durchsucht. Nichts. Einfach gar nichts. Nun haben sie beinahe den unteren Waldrand erreicht und allmählich schwinden ihre Hoffnungen, die zwei noch zu finden. Aber wir müssen sie finden!, denkt Louisa verzweifelt. Mirjams Leben hängt davon ab!

Nachdem sie einige Zeit durch den dichteren Teil des Waldes zwischen Fluss und Weg gestreift sind, kommt die Gruppe wieder auf den ursprünglichen Waldweg zurück und wandert weiter nach unten. Als der Weg sich gabelt, teilen sie sich auf – sechs gehen nach links, sieben nach rechts. Treffpunkt an der Lichtung, wenn keiner was findet. Louisa geht mit der Sechsergruppe nach links zum Fluss. Wenn sie hier nichts finden, ist es vorbei. Sie schüttelt sich. Hoffentlich finden wenigstens die anderen Gruppen etwas, denkt sie.

Rebekka, die dicht neben ihr geht, streift sie beim Gehen mit der Schulter und wirft ihr einen Blick zu. Sie scheint dasselbe zu denken. Sie müssen einfach!

Nach einer Weile bewahrheiten sich Louisas Befürchtungen. Weder Mirjam, noch Alex sind irgendwo zu sehen. Matt lässt Louisa die Schultern hängen – nun ist es also so weit. Jetzt muss sie sich endgültig zurückziehen und andere machen lassen.

Als die Gruppe umkehrt und sie zur Lichtung zurückgehen wollen, hört Louisa jedoch etwas und hält abrupt inne. Auch die anderen spitzen die Ohren und sehen sich verwirrt um. Louisa kann einfach nicht verhindern, dass ein kleiner Funke der Hoffnung wieder in ihr auflodert, obwohl sie weiß, dass sich ihr Hirn momentan schlicht an alles klammert, was irgendwie nach einer Lösung riecht. Trotzdem ist sie sicher, etwas gehört zu haben. Hat da nicht jemand um Hilfe gerufen? Alle lauschen angestrengt und nach ein paar Sekunden hört Louisa es tatsächlich noch einmal, diesmal deutlicher. Rebekka stößt sie in die Seite.

„Sie sind da", wispert sie. „Unten am Flussufer."

Endlich!, denkt Louisa und nun kann sie sich nicht mehr bremsen. Ohne nachzudenken rennt sie los, Rebekka dicht hinter sich.

Bei der alten Brücke, kurz vorm unteren Waldrand, bleiben sie stehen und was Louisa sieht, lässt sie erstarren, als wäre sie zu Eis gefroren. Mirjam steht unten am Brückenpfeiler und kann nicht weg, weil Alex ihr den Weg versperrt. Aber selbst, wenn Alex nicht so dicht vor ihr stehen würde, könnte sie nicht weglaufen, fällt Louisa dann auf. Selbst von ihrer Position aus kann sie deutlich sehen, dass Mirjam ein Bein schont. Oh Gott, denkt sie. Hoffentlich kommen wir noch nicht zu spät! Mit einem Handzeichen bedeutet sie den anderen, ihr zu folgen und langsam klettern sie die Böschung nach unten. In sicherem Abstand formieren sie sich um die beiden herum.

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt