Kapitel 3

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Jolina

Als sich die schwere Tür des Gemeinschaftsraums zum vorletzten Mal schließt, atmet Jolina leicht auf. Den Großteil des Abends hat sie nun hinter sich – der Stoffbeutel zu ihren Füßen ist leer und der große Raum, in dem sie sitzt, ist verlassen. Alle Zettel sind nun gezogen.

Alle bis auf einen.

Seufzend steht sie auf und geht auf eine Gestalt zu, die die ganze Versammlung über in einer Ecke gewartet hat und sich nun ebenfalls erhebt. Louisa kommt ihr entgegen und atmet tief durch.

„Ist ja alles reibungslos gelaufen, was?"

„Ja, scheint so", nickt Jolina und streckt die Hand aus. „Hier hast du deine Rollenkarte."

Louisa nimmt die Karte entgegen und mustert Jolina mit durchdringendem Blick.

„Danke. Ist sonst alles geregelt? Hast du alles?"

Jolina nickt wieder. „Ja. Es ist alles vorbereitet. Du kannst dich unbekümmert schlafen legen.", fügt sie hinzu und kann einfach nicht verhindern, dass sich unüberhörbar Zynismus in ihre Stimme schleicht. Louisa erwidert das Ganze jedoch nur mit stoischer Miene, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen. Als hätte sie keinen Schimmer, worum es geht. Innerlich verdreht Jolina die Augen. Dann wechselt Lou das Thema.

„Gut. Soll ich dir noch beim Zusammenräumen helfen?" Mit einem Blick deutet sie auf Jolinas Unterlagen die verstreut auf dem Boden liegen. Die schüttelt den Kopf.

„Nein, passt schon. Das bisschen schaffe ich alleine."

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, bückt sie sich und beginnt, einige Sachen aufzuheben. Als sie jedoch grade die leere Stofftasche zusammenfalten will, in der sich zuvor die Zettel befanden, stockt sie. Fühlt sich an, als sei doch noch etwas darin. Zögernd fühlt sie mit der Hand hinein, dann umfassen ihre Finger tatsächlich etwas und mit verwirrtem Gesicht zieht sie es heraus.

Ein Zettel. Ein großer, ordentlich zusammengefalteter Zettel. Mit zusammengekniffenen Augen mustert Jolina ihn. Louisa, die sich grade abwenden wollte, um zu gehen, hält ebenfalls inne.

„Was ist das denn?"

Jolina schüttelt nur den Kopf und faltet den Zettel langsam auf. Und im nächsten Moment wird sie von einem äußerst beunruhigenden Gefühl überwältigt. Kaum, dass sich ihre Finger eingehender mit dem Papier befassen, wird Jolina von einer Welle aus Angst und Unbehagen überrollt, so unmittelbar und intensiv, dass sie sogar leicht zurückzuckt und das Blatt beinahe fallen lässt. Sie hat absolut keine Ahnung, warum, aber alles in ihr schreit regelrecht danach, diesen Zettel so schnell es geht wieder loszuwerden und sich möglichst weit davon zu entfernen. Sie schüttelt sich, um dieses Gefühl loszuwerden, was ihr jedoch nur mäßig gelingt. Vorsichtig beginnt sie, das Blatt eingehender zu untersuchen.

Was genau soll das sein? Woher kommt es? Hat es irgendeiner von den anderen Schülern in die Tasche fallen lassen, als er seinen Zettel gezogen hat? Jolina hat keinen Schimmer. Mit der Spitze ihres Zeigefingers fährt sie sachte über das Papier, das sich erstaunlich fest und fast schon neu anfühlt. Trotzdem wird sie den Verdacht nicht los, dass es sehr viel älter ist, als es den Anschein hat. Die Ränder sind vergilbt und insgesamt sieht es aus, als habe dieses Blatt mindestens ein Jahrhundert lang in einer verstaubten Truhe oder zwischen den Seiten eines alten Wälzers gelegen. Ganz oben prangt wie eingebrannt, aber dennoch fast zu blass um es zu erkennen, ein kreisförmiges Symbol. Mehr als das interessiert Jolina jedoch die Botschaft, die dieses alte Blatt Papier enthält: Es ist mit schwarzer Tinte in ordentlicher Schreibschrift beschrieben und nach einem oberflächlichen Blick wird Jolina klar, dass es sich bei dem Text, der darauf geschrieben steht um eine Art Gedicht handelt.

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt