Kapitel 16

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Stille.

Niemand rührt sich, selbst das Atmen der anderen ist kaum zu hören. Der völlige Gegensatz zu dem, womit dieser Tag angefangen hat – aber es ist die einzige logische Schlussfolgerung auf das, was passiert ist. Besonders jetzt, wo der Vorhang des Schweigens endlich gelüftet ist. Dennoch ist diese Stille so ohrenbetäubend, dass ich beinahe das Gefühl habe, mir die Ohren zuhalten zu müssen. Und ich bin mir sicher, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht.

Jolina steht in der Mitte des Raums, in der Hand den Zettel mit dem Gedicht. Alle wissen nun Bescheid. Von Beginn an, als sie den Zettel zum ersten Mal bekommen hat, über Vivians Tod bis hin zu der Sache mit Maja hat Lina der Stufe alles erzählt. Nicht das kleinste Bisschen hat sie ausgelassen und sie ist kein einziges Mal unterbrochen worden.

Und jetzt, wo die anderen alles wissen, bleibt der erwartete Wirbelsturm aus. Alle wirken wie betäubt und die Gefühle, die sie grade durchströmen, meine ich beinahe mit Händen greifen zu können – weil es mir selbst genauso ging, als der ganze Spuk angefangen hat. Mit einem Mal wissen sie alles und die vergangenen Ereignisse bekommen endlich eine Richtung. Alles erscheint auf einmal logisch – und doch wieder nicht. Ich kann ihre Verwirrung fühlen, ihre Hoffnung, dass das alles ein Traum ist und gleichzeitig auch die Angst, dass das wirklich stimmt, was Jolina ihnen erzählt hat.

Die Stille zieht sich und ich glaube schon, sie wird nie enden, doch dann beginnt, aus dem dunklen, alles verschlingenden Nichts heraus, der Erste zu sprechen. Und entgegen meiner Annahme klingt dieser Jemand vor allen Dingen wütend.

„Du hast es also geahnt." Beim plötzlichen Klang der Stimme zucken einige zusammen. Meine Augen wandern in eine dunkle Ecke – dort steht Vanessa und sieht Jolina mit vom Weinen rot unterlaufenen Augen leicht irritiert an.

„Als du nach der Eröffnung des Spiels alle Karten ausgeteilt hattest und diesen Zettel gefunden hast, hast du schon geahnt, dass dieses Gedicht nichts Gutes zu bedeuten hat? Und trotzdem hast du nichts gesagt?"

Jolina seufzt. „Ja, vielleicht habe ich das, Vanessa, aber ich war mir einfach unsicher. Ich wollte erstmal nach einer banalen Erklärung suchen, bevor ich mich und uns alle mit etwas verrückt mache, was vielleicht gar nicht so ist."

„Ach ja?", faucht sie. „Aber du hättest direkt mit allen darüber reden können! Du hättest alle nochmal zusammenrufen oder es sonst wie einfach ansprechen können, dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen!"

„Und dann?", zischt Jolina zurück. „Hättet ihr mir das geglaubt, so ohne Weiteres? Ich glaube nämlich nicht. Das Einzige, was ich von euch gehört hätte, wäre gewesen, dass ich nicht zu viel da rein interpretieren soll und dass das wahrscheinlich nur ein schlechter Scherz ist. Genauso, wie ich auch gedacht habe. Genauso hätte jeder von euch gedacht, also sagt mir nicht, wie ich hätte reagieren sollen!"

Nach dieser Ansage ist es erstmal wieder still und diese Zeit nutze ich, um über das nachzudenken, was Vanessa gesagt hat.

Natürlich hat sie Recht, genau wie auch Mila vorhin: wenn wir früher gehandelt hätten, dann wäre es nicht so weit gekommen. Aber man kann sich so viele Vorwürfe machen, wie man will. Jetzt bringt es sowieso nichts mehr. Wir wissen jetzt, dass dieses Spiel eben kein schlechter Scherz ist und dass wir nun mit den Konsequenzen leben müssen, das nicht rechtzeitig erkannt zu haben.

Meine Grübeleien finden ein jähes Ende, als hinter Louisa und mir eine weitere Stimme ertönt – Mila funkelt Jolina nun wieder an, mit nicht minder giftigem Blick, als Vanessa.

„Aber was war mit der Dorfversammlung gestern nach Vivis Tod? Wieso habt ihr da immer noch nichts gesagt? Immerhin gab es da schon die erste Tote und ein paar wussten davon."

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt