Kapitel 32

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Amor

Aus dem grauen Dunst des Vormittags ragt das alte Schloss hervor, wie die Spitze eines Berges. Es ist ruhig, nur vereinzelt fliegen ein paar Vögel vorbei und ab und an sieht man eine Bewegung hinter den geschlossenen Fenstern. Aber abgesehen davon ist alles eingehüllt von einer bedrückenden Stille – es scheint, als herrsche unter den Bewohnern des Schlosses eine übermenschliche Antriebslosigkeit. Dass niemand bei dem verhangenen Himmel den Drang verspürt, nach draußen zu gehen, ist noch nachvollziehbar, jedoch bewegen sich die Meisten noch nicht einmal aus ihren Zimmern heraus. Viel lieber liegen sie faul im Bett herum, hören Musik oder lesen und es scheint, als haben sie mit dem Ansporn, weiterzumachen, auch die Hoffnung verloren, dass die Probleme, die sie alle miteinander verbinden, sich jemals verflüchtigen werden. Alle denken so, ob bewusst oder unbewusst. Alle, bis auf einen.

Inmitten dieser bedrückenden Stimmung huscht Amor durch das Schloss. Er ist allein unterwegs und auch, wenn er selbst nur zu deutlich das Gefühl der Resignation in sich spürt, weiß er, dass er nicht länger tatenlos herumsitzen kann. Und deswegen hat er den schützenden Mantel der Unsichtbarkeit abgestreift, den er von Beginn an getragen hat und hat sich auf den Weg gemacht. Denn nun ist es für ihn an der Zeit, zu handeln und er weiß genau: tut er es nicht, ist alles verloren.

Amor ist am Boden zerstört. Wie konnte das alles passieren? All die Hoffnungen, dass seine Pläne erfolgversprechend wären, waren in einem einzigen Moment zerplatzt und hatten einen Scherbenhaufen aus Wut, Enttäuschung und gegenseitiger Verachtung hinterlassen. Und das, obwohl Amor alles Erdenkliche versucht hat, um das zu verhindern. Sein Vorhaben war so perfekt und vielversprechend gewesen! Aber scheinbar nicht ausgeklügelt genug, denkt er dann. Denn letzten Endes hat er einen entscheidenden Fehler gemacht. Amor schüttelt den Kopf über sich selbst. Noch immer kann er seine eigene Dummheit nicht fassen. Und wieder einmal taucht diese quälende Frage in seinem Hirn auf: Wenn ihm dieser Fehler nicht unterlaufen wäre, hätte er dann verhindern können, was passiert ist? Verzweifelt seufzt er. Er kann sich die Antwort darauf schlicht und ergreifend nicht geben. Er weiß nur, dass er handeln muss, und zwar schnell. Und aus diesem Grund ist er nun unterwegs. Er muss mit jemandem reden. Dringend.

Während er das Zimmer der Person sucht, mit der er sprechen will, wandern seine Gedanken zu den zwei Menschen, deren Schicksal ihm innerhalb der letzten Zeit wichtiger geworden ist, als so manches andere.

War es ein Fehler gewesen, sie als Amors Verliebte auszusuchen? Alles, was er gewollt hatte, war, zu helfen – er hatte gehofft, dass sich ihr Problem dadurch lösen würde und zunächst schien es auch, als ob sein Plan funktioniert hätte. Aber dann war alles schief gelaufen. War es wirklich allein seine Schuld gewesen, dass sie sich am Ende nicht gefunden hatten?

Fragen über Fragen wirbeln ihm durch den Kopf, obwohl er weiß, dass es nichts mehr bringt, nach dem Wie und Warum zu suchen. Er kann nicht mehr ändern, was geschehen ist. Aber er kann vielleicht verhindern, dass es noch schlimmer wird.

Schließlich steht Amor vor dem Zimmer, das er sucht, doch in dem Augenblick überkommen ihn auch schon wieder Zweifel: Wird sie sich anhören, was er zu sagen hat? Soll er es wirklich versuchen? Oder wird sie ihn eiskalt abweisen? Amor schüttelt sich. Schon bevor er den endgültigen Entschluss gefasst hatte, zu ihr zu gehen, hatte er sich mit diesen Fragen herumgeplagt, doch letzten Endes hatte er sich ganz einfach dazu durchgerungen, es zu tun. Und tief in sich drin weiß er, dass er das jetzt durchziehen muss, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihm den Kopf abreißen wird.

Also gibt er sich einen Ruck und hebt die Hand. Das Klopfgeräusch, das seine Fingerknöchel auf dem Holz erzeugen, klingt alles andere als selbstbewusst. Jedoch zwingt Amor sich, seinen Körper zu voller Größe aufzurichten.

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt