Kapitel 9

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Die Ereignisse heute Morgen haben jeglichen Hunger in mir beiseite gefegt und somit kümmert es mich nicht groß, dass wir schlussendlich überhaupt nichts vom Frühstück mitbekommen. Michelle und die anderen haben es aufgegeben, Frau Weiland und die restlichen Lehrer von dem, was sich im Innenhof ereignet hat, überzeugen zu wollen. Später erfahren wir, dass sie sogar noch eine Zeitlang auf eigene Faust nach Vivian gesucht haben, allerdings ebenfalls ohne Erfolg. Die Folge ist, dass sie sich weitgehend in Schweigen hüllen, als unsere Klasse schließlich zusammen mit der 10a und dem Herbergsleiter um halb zehn in Richtung Weinkeller aufbricht.

Tatsächlich läuft alles so weiter, wie bisher. Die Lehrer scheinen wirklich überhaupt nichts komisch zu finden – keiner von ihnen bemerkt, dass Vivian fehlt. Nicht einmal Frau Weiland, ihre eigene Klassenlehrerin. Ich schüttle den Kopf. Auch, wenn ich nun weiß, wer, oder besser gesagt, was dafür verantwortlich ist, fällt es mir trotzdem schwer, zu begreifen, dass sie von all dem wirklich nichts sehen. Lediglich unsere Mitschüler scheinen an der niedergeschlagenen Stimmung, die speziell Michelle und ihre Mädels wie eine Eiswolke umgibt, zu bemerken, dass etwas nicht stimmt. Ich frage mich, ob dieser Umstand wohl daher rührt, dass die Vorgänge innerhalb des Spiels für Außenstehende einfach unsichtbar bleiben. Eins ist jedoch klar – innerhalb der Stufe wird Vivians Tod kein Geheimnis bleiben. Da werden mit Sicherheit Gerüchte die Runde machen. Ob die anderen diesen Gerüchten Glauben schenken, wird sich zeigen, jedoch werden einige sich zweifellos irgendwann fragen, was wohl dahintersteckt. Was das für Lina, Lou, mich und unsere Abmachung bedeutet, so weit denke ich im Moment noch nicht. Mein Innerstes ist nach wie vor unter einer dicken Eisschicht begraben und daran ändert selbst das warme Sonnenlicht nichts, als wir einem schmalen Weg nach unten zum Weinkeller folgen. Und als wir den dunklen Raum mit den riesigen Weinfässern betreten, verschwindet auch dieses letzte Bisschen Wärme.

Auch, wenn die Führung interessant ist, kann ich doch nicht richtig zuhören. Immer wieder muss ich an dieses Rätsel denken, das wir nun zu lösen haben und ich frage mich, ob es wirklich so einfach sein wird, alle Bestien, von denen in diesem Gedicht geschrieben steht, rechtzeitig zu finden. Mich fröstelt es. Jolina nennt sie, die „Wölfe". Doch auch, wenn mir diese Bezeichnung einen Schauer über den Rücken jagt, muss ich feststellen, dass sie erschreckend zutreffend ist.

Aber, wie auch immer wir sie nennen; es ist eine enorme Verantwortung, die wir nun zu tragen haben – ich habe wirklich keine Lust darauf, dass sich die Ereignisse von heute Morgen wiederholen. Umso mehr brennt es mir wie Feuer unter den Nägeln, endlich mit der Suche nach Nummer Zwei zu beginnen.

Als hätte Jolina meine Gedanken erraten, dreht sie sich just in dem Moment zu Lou und mir um, als der Herbergsleiter uns die erste Pause einräumt und sich die Gruppe plappernd und murmelnd zerstreut.

„Kommt mit", sagt sie und wedelt mit dem Zettel vor unseren Gesichtern herum. „Wird Zeit, dass wir was rausfinden. Besser, wir warten damit nicht bis heute Nachmittag." Damit spricht sie mir direkt aus der Seele und ich nicke.

„Sehe ich auch so", bekräftigt Louisa und Jolina winkt uns zu einer Nische abseits von den andern, in der eine Laterne einsam vor sich hin flackert. Lina stellt sich direkt darunter, wirft noch einmal einen prüfenden Blick zum Rest der Gruppe und faltet dann den Zettel auf.

„Also", murmelt sie. „Gehen wir einfach alles der Reihe nach durch. Die erste Strophe ist ja relativ eindeutig. Gucken wir uns also die zweite mal an."

Sie hält den Zettel so, dass wir mitlesen können und gemeinsam beugen wir uns darüber.

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WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt