Kapitel 2

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Um kurz vor acht betrachte ich mich noch einmal im Spiegel und zupfe mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Jolina ist schon vor rund einer Viertelstunde runter in den Gemeinschaftsraum gegangen und Louisa ist grade dabei, sich frische Klamotten anzuziehen. Kurz darauf verschwindet auch sie. Bereits beim Abendessen hatte sie mich vorgewarnt, dass sie früher gehen muss, weil sie noch ein paar Dinge mit Jolina besprechen muss. Auch Charlotte, Nele und Lara sind schon weg – also bin ich jetzt allein.

Für eine Weile mustere ich mein Spiegelbild, das mit hellbraunen Augen zurückstarrt. Ich sehe nicht mehr so verschwitzt und zermatscht aus, wie kurz nach der Busfahrt. Das ist gut. Immerhin zeigen also die kalte Dusche und das Schläfchen, das ich eben gemacht habe, ihre Wirkung. Statt dem Gewicht meiner Erschöpfung, das an meinen Gliedern zog, fühle ich nun, wie sich auf meinen Armen mehr und mehr ein federleichtes Prickeln ausbreitet, als würden mir tausende von Ameisen über die Haut krabbeln.

In wenigen Minuten beginnt unser Spiel. Ich schüttle den Kopf. Je mehr ich darüber nachdenke, desto unwirklicher finde ich es, dass es nun tatsächlich so weit ist, nachdem Lou und Lina mir so oft die Ohren darüber vollgequasselt haben.

Ein letztes Mal noch fahre ich mir durch die Haare, dann nehme ich mir den letzten Schlüssel von dem kleinen Tisch neben dem Fenster und gehe nach draußen. Auf dem Flur begegne ich einigen anderen Mädels, die sich ebenfalls auf den Weg nach unten machen und von überall höre ich leises Flüstern. Die Aufregung scheint auch von den anderen Besitz ergriffen zu haben. Schnell schließe ich die Zimmertür ab, dann folge ich den anderen nach unten.

Der Gemeinschaftsraum ist schon voll, als ich ankomme. Die meisten meiner Mitschüler haben sich auf dem Fußboden niedergelassen, andere wiederum haben es sich auf den vereinzelt herumstehenden Tischen und Stühlen bequem gemacht.

Obwohl es mich nicht überraschen sollte, erschlägt mich das Zimmer erstmal förmlich, als ich eintrete – die Wände sind auch hier mit aufwändigen Holztäfelungen verziert und an der rechten Seite hängt ein kunstvoll gewebter Wandteppich, der beinahe die komplette Länge des Zimmers einnimmt. Auf den kleinen Schränkchen, die überall in den Ecken und am Fenster stehen, sind die üblichen schwarzen Kerzenständer verteilt, in denen rote Kerzen vor sich hin brennen. Das schwindende Sonnenlicht, das gelblich durch die hohen Fenster scheint und lange Schatten wirft, tut sein Übriges.

Ich setze mich in der Nähe des Kamins auf der linken Seite auf den Boden und lasse meine Augen durch den Raum schweifen. Jolina steht mit Nick und Nathan, dem Klassensprecher der 10b in der Mitte und geht mit ihnen offenbar die wichtigsten Punkte nochmal durch. Als sie eine Hand hebt, um sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, bemerke ich, wie sie leicht zittert. In wenigen Sekunden wird sie vor der gesamten Stufe reden müssen, worum ich sie absolut nicht beneide. Allerdings versuche ich vergeblich, ihren Blick aufzufangen, um ihr aufmunternd zuzunicken, also suche ich nach Louisa. Die kann ich jedoch nirgendwo finden.

Stattdessen erblicken meine Augen Alex in der gegenüberliegenden Ecke und ich wende demonstrativ den Kopf in die andere Richtung. Na super. Ich konzentriere mich auf das übrige Treiben im Raum und bemühe mich, nicht groß daran zu denken, dass schon wieder dieses rothaarige Biest neben ihm sitzt. Eifersucht habe ich mir nämlich eigentlich strikt verboten, was Alex betrifft. Im nächsten Moment werde ich jedoch glücklicherweise aus dieser Situation befreit, denn Jolinas Stimme ertönt aus der Mitte des Raums. Sie will anfangen.

Nach und nach senkt sich der Lautstärkepegel und alle schauen von ihren Plätzen hoch zu Jolina, die auf einem Stuhl steht und ihre Hand hochhält. Sie wartet, bis sich vollständige Stille im Raum ausbreitet, dann beginnt sie zu reden.

„Erstmal möchte ich euch alle begrüßen. Ich freue mich, dass sich so viele von euch dafür entschieden haben, „Werwolf" hier auf unserer Stufenfahrt zu spielen. Bevor es aber richtig losgeht, gibt es noch ein paar Dinge zu klären, deswegen hört jetzt bitte genau zu. Wenn später noch Fragen auftauchen, könnt ihr jederzeit zu mir kommen, ich helfe euch gerne weiter. Ich erkläre dann jetzt den Ablauf für heute."

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt