Kapitel 10

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Die Seherin

Als sich im Flur über ihr mit lautem Knarzen eine Tür öffnet und Mädchenstimmen laut plappernd durch den Gang schallen, bekommt die Seherin beinahe einen Herzinfarkt, so aufgeregt ist sie. Seit mehreren Minuten wartet sie schon unter der Treppe im Foyer und war die ganze Zeit über so beschäftigt damit, auf eventuelle Schritte zu achten, die die Treppe herunterkommen, dass sie alles andere um sich herum völlig ausgeblendet hat. Mit gespitzten Ohren wartet sie ab. Das Geplapper hält eine Weile an, dann entfernt es sich und erstirbt mit dem klackenden Schließen einer Tür.

Kurz lauscht sie, ob noch weitere Geräusche zu hören sind, doch als sich nichts mehr rührt, lehnt sie sich wieder an die Wand unter der Treppe und konzentriert sich auf das, was gleich kommen wird.

Die Seherin ist nervös, denn das anstehende Treffen ist von hoher Bedeutung für sie. Sie hat einen Vorschlag zu unterbreiten. Und davon, ob dieser Vorschlag angenommen wird, oder nicht, hängt ihr zukünftiger Erfolg ab. Ob er überhaupt kommt?, fragt sie sich mit einem unguten Gefühl im Magen. Als sie ihn vor ungefähr einer Stunde - kurz nach Ende des Vormittagsprogramms - bat, unter vier Augen mit ihr zu sprechen, wirkte er leicht misstrauisch und nicht unbedingt begeistert. Zwar hat er zugesagt, doch es kann natürlich trotzdem sein, dass er die Seherin einfach sitzen lässt. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. Noch ist es ja nicht zu spät.

Ungeduldig stößt sie sich von der Wand ab, blickt durch den Flur und beginnt, unter der Treppe umher zu tigern. Alles ist nach wie vor still und die Seherin atmet frustriert durch. Grade will sie erneut auf die Uhr sehen, als sie einen leichten Luftzug neben sich spürt und den Kopf wendet. Beinahe kreischt sie erschrocken auf, als sie ihn wie aus dem Nichts nur einen Meter entfernt neben sich stehen sieht. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören.

„Bin da", meint der Rabe knapp und zieht leicht belustigt ob ihres erschrockenen Gesichtsausdrucks eine Augenbraue hoch.

Was du nicht sagst, denkt die Seherin leicht verärgert über ihre Reaktion und mustert ihn kurz. Seine dunkle Silhouette, durch die schwarzen Haare und die dunkle Kleidung noch betont, lässt ihn mit dem Licht aus dem Flur im Rücken beinahe wie einen gesichtslosen Schatten aussehen. Nur die Augen blitzen wie schwarze Murmeln zu ihr in die Dunkelheit. Irgendwie beängstigend, schießt es ihr durch den Kopf, doch sie schiebt es schnell beiseite. Ich brauche klare Gedanken, wenn ich das hier durchziehen will. Nur nicht einschüchtern lassen. Tief atmet sie durch, packt den Raben am Arm und zieht ihn zu sich unter die Treppe.

„Also", meint er und sieht sie mit durchdringendem Blick an. „Was willst du?"

Die Seherin schluckt ihre letzten Zweifel runter und erwidert seinen Blick. „Ich will dir einen Vorschlag machen."

„Einen Vorschlag?", unterbricht er sie sofort.

Die Seherin verschränkt die Arme vor der Brust. „Ja, einen Vorschlag. Und zwar in Bezug auf das Spiel."

Mit zusammengekniffenen Augen mustert der Rabe sie, doch sie fährt unbeirrt fort.

„Was hältst du davon, wenn wir als Verbündete zusammenarbeiten?"

Nun schnellen die Augenbrauen des Raben nach oben und er fixiert die Seherin, mehr überrascht als verunsichert.

„Verbünden? Wir beide?" Die Seherin nickt. „Wie komme ich denn dazu?"

„Der Grund, warum ich grade dich frage, besteht darin, dass ich deine Rolle kenne. Ich weiß, dass du der Rabe bist. Da ich dadurch weiß, dass wir für die gleiche Seite spielen, wollte ich einfach nur wissen, ob du Interesse hast."

Kurz meint sie, einen winzigen Hauch von Unsicherheit im Gesicht ihres Gegenübers wahrzunehmen - etwas, was sie dort noch nie gesehen hat. Der Rabe ist immer schon eine sehr selbstbewusste Person gewesen. Unsicherheit, Schock oder gar Angst hat sie bei ihm noch nie erlebt. Die Unsicherheit verschwindet jedoch schnell und als er spricht, klingt seine Stimme gefährlich leise.

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt