Kapitel 4

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Ich bin das kleine Mädchen.

Zurückgezogen, unscheinbar, still. Aber trotzdem ein interessanter und vielschichtiger Charakter. Das kleine Mädchen hat das Privileg, nachts die Werwölfe bei ihren Treffen zu beobachten und heimlich ihre Absprachen zu belauschen. Somit ist es eine nicht zu unterschätzende Geheimwaffe für das Dorf, auf dessen Seite es spielt, da es bei den täglichen Versammlungen so einiges an Hinweisen streuen kann.

Seufzend lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und lasse das Papierchen in meiner Hand sinken. Es hat schon seine Vorteile gehabt, als Erste zu gehen, denn so konnte ich frei entscheiden, welchen Rückzugsort ich wähle. Somit habe ich mich kurzerhand in meinem Zimmer auf mein Bett verkrochen, um meinen Zettel ungestört aufzufalten.

Das kleine Mädchen, denke ich kopfschüttelnd. Wer hätte das gedacht?

Obwohl ich mir total gewünscht habe, eine Sonderrolle zu bekommen, hätte ich niemals damit gerechnet, tatsächlich eine zu ziehen. Die Wahrscheinlichkeit, aus den vielen Zetteln einen der zehn Sondercharaktere zu angeln, war viel zu niedrig. Aber nun ist es so.

Mit einem leichten Grinsen auf den Lippen stecke ich den Zettel in meine Hosentasche, dann lege ich mich auf den Rücken und lasse die Gedanken kreisen. Unvermittelt bekomme ich eine Gänsehaut, als ich an die kommende Nacht denke. Es ist die erste Nacht des Spiels und ich werde dabei sein.

Wer wohl die anderen Nachtrollen gezogen hat? Mich würde interessieren, ob sie mit ihrer Rolle ebenso zufrieden sind, wie ich und ob es Leute sind, die ich kenne. Natürlich bin ich auch gespannt darauf, wer von ihnen bis zum Ende durchhalten wird. Nicht jeder wird bis zum Schluss überleben, das ist ganz klar. Werde ich unter denen sein, die es schaffen?

Seufzend verschränke ich meine Finger ineinander. Von nun an wird jeder auf sich allein gestellt sein. Jeder hat eine eigene Identität und kennt die Rollen der anderen nicht. Von Freundschaften oder Beziehungen wird hier niemand profitieren können – zumindest nicht die, die sich an die Regeln halten.

Ich bin gespannt, wer hier sein eigenes Ding drehen wird und auf die Regeln pfeift. Dass es da ein paar Leute geben wird, steht für mich außer Frage. In dem Format, das wir jetzt spielen, gibt es vielmehr Schlupflöcher. Während man im Stuhlkreis noch die strikte Vorgabe hat, die Augen geschlossen zu halten, wenn man nicht an der Reihe ist, hat Jolina als die Spielleiterin hier viel weniger die Möglichkeit, die anderen zu überwachen. Um genau zu sein: gar keine. Wir haben viel mehr Freiheiten. Das, da bin ich mir sicher, kann dazu führen, dass Dinge passieren, die man vielleicht nicht unbedingt vorhersieht.

Ungeduldig richte ich mich auf und ziehe mein Handy aus der Hosentasche, um auf die Uhr zu schauen. Schon kurz vor neun.

Überraschenderweise dauert es nicht lang, bis nacheinander Lara, Nele und Charlotte ins Zimmer kommen. Kurz darauf kommt auch Louisa rein.

„Die Rollen sind alle vergeben", erklärt sie. „Wir können uns jetzt nacheinander bei Jolina melden. Es geht der Reihe nach, Zimmer 6 hat grade angefangen. Ihr kriegt dann von einem aus Zimmer 35 bescheid. Ich gehe nur noch schnell und informiere die anderen."

Und schon ist sie weg. Wieder heißt es warten und da wir im zweiten Stock wohnen und eines der letzten Zimmer sind, dauert es lange, bis endlich Lucy aus dem Nachbarzimmer rein kommt. Louisa ist mittlerweile auch wieder da und ich schaue fragend in die Runde. „Will jemand von euch als erstes gehen?"

Alle verneinen, also taste ich noch einmal nach dem Zettel in meiner Hosentasche und mache mich auf den Weg. Als ich die schwere Holztür mit den eingearbeiteten Mustern im hinteren Teil der Empfangshalle aufdrücke, sitzt Jolina an genau derselben Stelle wie vorhin auf ihrem Stuhl, diesmal mit Block und Stift in der Hand. Als ich näher komme, hebt sie den Kopf und lächelt.

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt