Kapitel 27

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Das heutige Tagesprogramm soll uns ausnahmsweise aus unserem kleinen Städtchen herausführen, wie die Lehrer am Ende des Frühstücks verkünden. Gemeinsam mit der ganzen Stufe wollen sie in die nächstgrößere Stadt fahren, um dort ein Museum zu besuchen. Unter normalen Umständen hätte das innerhalb der Stufe ziemlich sicher Protest ausgelöst, aber mittlerweile dürfte wohl ausnahmslos jedem klar sein, dass diese Klassenfahrt längst nicht mehr normalen Maßstäben folgt. Allen, bis auf den Lehrern. Über die Ereignisse von heute Morgen hat sie niemand informiert - nach den Vorkommnissen bei Majas Tod hatte sich das niemand getraut, ganz zu schweigen davon, dass es ohnehin nichts gebracht hätte. Mittlerweile dürfte das wohl jeder begriffen haben. Einzig die Tatsache, dass unsere komplette Stufe, besonders seit der Sache mit Maja, ungewöhnlich schweigsam ist, scheint unsere Lehrer ein bisschen zu verwundern.

Unser Ausflugsziel kümmert auch mich heute herzlich wenig. Von mir aus hätten wir auch eine Wanderung auf den Mount Everest machen können - ich bin mir nicht sicher, ob mich das gejuckt hätte. Als wir nach einer guten Stunde Fahrt im Museum ankommen, schlendere ich also vielmehr wie in einen schalldichten Beutel verpackt durch die Ausstellung. Die Infotexte an den Wänden schaffen es nicht, meine Aufmerksamkeit zu erlangen und auch die Tatsache, dass wir wahrscheinlich erst zum Abendessen zurück sein werden, vermag es nicht, mich zu schockieren. Da ist nur diese Leere in meinem Kopf, die sich heute Morgen dort eingenistet hat. Sie breitet sich immer weiter aus und nimmt alles in Besitz. Kein einziger Gedanke hat mehr Platz in meinem Kopf, bis auf eine einzige Frage. Was haben wir diesmal falsch gemacht?

Das Wissen, dass Paul doch nicht der richtige Wolf war, obwohl wir uns so sicher waren, lässt mir eine Gänsehaut über die Arme laufen. Und durch die Mauern meiner Taubheit sickert nach und nach doch ein fieses Gefühl hindurch: Schuld. Und die Niedergeschlagenheit, die vor allem die Gruppe um Nathans Freunde ausstrahlt, tut diesem Gefühl keinen Abbruch. Jedes Mal, wenn sie an mir vorbei gehen, spüre ich einen weiteren Stich im Herzen. Sie tun mir leid. Es ist nicht schön, einen Freund zu verlieren - ich habe es ja mit Vivian ansatzweise selbst erlebt, obwohl wir nicht viel miteinander zu tun hatten. Umso mehr pikst es mich innerlich, dass wir schon wieder versagt haben. Zum dritten Mal. Wenn ich nun an meine Hoffnung von heute Morgen denke, dass das hier ein guter Tag wird und wir es schaffen könnten, schüttle ich den Kopf. Ich habe zu früh geurteilt.

Lustlos schleiche ich durch die schrecklich sterilen Räume, lasse meine Augen über die ausgelegten Gegenstände gleiten, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Gruppe von Mädchen, die ähnlich zerstreut wirken, wie ich. Die Nachricht von einem weiteren Opfer hat sich natürlich wie ein Lauffeuer verbreitet und somit ist der Rest der Stufe ebenfalls recht still, bis auf das Flüstern, das mir aus jedem vorbeigehenden Grüppchen entgegenzischt. Ich schließe die Augen. Diese Schuldgefühle drohen mich zu überwältigen, wenn ich nichts dagegen tue. Mein Inneres ist wie verkrampft und ich habe Angst, dass sich dieses Gefühl für die nächste Zeit nicht mehr verflüchtigt.

In diesem Moment kommt Alex mit seiner Gruppe in den Raum und unsere Blicke kreuzen sich. Seine Erscheinung lässt ein leichtes Prickeln durch meinen Körper rieseln und für den Bruchteil einer Sekunde gebe ich mich diesem Gefühl hin und blende die Probleme aus. Was ich brauche, ist Halt und ich fühle, dass Alex das genauso braucht. Wenn nicht sogar noch mehr. Auch er folgt den anderen nur mit schleppenden Schritten durch die Ausstellung. Dennoch schenkt er mir ein kleines Lächeln und auch, wenn es nicht viel ist, gibt es mir Ruhe. Leise seufzend wende ich den Blick ab.

Wir müssen auf jeden Fall noch einmal miteinander reden, wenn wir wieder im Schloss sind. Bei dem Gedanken, den Abend mit Alex in einer lauschigen Ecke zu verbringen und leise zu quatschen, während es dunkel wird, überläuft ein neuerliches Prickeln meine Haut und entgegen meiner momentanen Stimmung muss ich lächeln.

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt