Kapitel 35

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6. Nacht

Mirjam
0.57 Uhr

Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich mir sicher bin, dass ich weit genug von der Lichtung weg und vor allen Dingen allein bin. Ich habe keine Lust, direkt zu Beginn getötet zu werden. Als ich mich ducke und hinter einem Busch verstecke, ist es daher bereits 0:57 Uhr. Noch drei Minuten, dann geht es los.

Ich habe die Bildschirmhelligkeit meines Handys schon auf dem Weg hierhin auf ein Minimum heruntergedimmt, aber eigentlich bringt mir das nicht viel, wenn ich mir das rote Leuchtarmband angucke, das mein rechtes Handgelenk ziert. In der Dunkelheit wirkt es, wie eine Signalrakete. Vorsichtig recke ich den Kopf aus meinem Busch und schaue mich um, doch ich sehe niemanden – zum Glück. Jedoch höre ich etwas entfernt gedämpfte Stimmen und das Knacken von Zweigen. Wir sind abseits von den regulären Waldwegen, weswegen es kaum möglich ist, sich lautlos fortzubewegen. Ich verdrehe die Augen. Vermutlich sind sich einige noch nicht über die Lage ihres Verstecks einig.

Da höre ich plötzlich ein Knacken in meiner unmittelbaren Nähe und ziehe abrupt den Kopf zurück. Fast im selben Moment springen die Ziffern meines Handys auf 0:58 Uhr. Verdammt! Wer ist das denn jetzt?

Mit steigender Anspannung lausche ich auf jedes noch so kleine Geräusch. Doch was ich höre, macht jegliche Hoffnungen in mir, dass es vielleicht nur ein Reh ist, das hier durchs Unterholz streift, mehr und mehr zunichte: Das Knacken wird lauter und es raschelt, als bahne sich jemand einen Weg durch das Gestrüpp. Jemand, der eindeutig zwei Beine besitzt und nicht vier.

Einige Sekunden später erkenne ich, wer es ist und drücke mich noch etwas näher an den Baum hinter mir.

0:59 Uhr. Ich atme so flach wie möglich und beobachte, wie der Junge mit dem Werwolfarmband sich umschaut und zu meiner Beunruhigung einen Punkt in meiner unmittelbaren Nähe fixiert. Unauffällig ziehe ich den Ärmel meines Pullovers über mein rotes Armband, obwohl ich bezweifle, dass mir das helfen wird. Wenn ich Pech habe, hat er mich längst gesehen. Ich schiebe mir das Handy in die Hosentasche und zähle die letzten Sekunden.

3... Der Junge schaut ebenfalls ein letztes Mal auf sein Handy, dann packt er es weg.

2... Er schaut in meine Richtung und macht sich bereit, loszurennen.

1... Ich mache mich so klein, wie möglich.

Dann ein schrilles Pfeifen – und der Werwolf rennt los.

Fast zeitgleich knackt und raschelt es überall und um mich herum kommen auch die anderen in Bewegung. Der Werwolfjunge rennt auf mich zu und ich springe auf. Panisch sehe ich mich um und entscheide mich grade dafür, zur linken Seite zu entwischen, da merke ich auf einmal, dass er es gar nicht auf mich abgesehen hat.

Ein Mädchen, das etwas entfernt zwischen zwei Bäumen hockt, springt wie von der Tarantel gestochen auf und rennt davon, den Werwolf dicht hinter sich. Bald habe ich die beiden aus den Augen verloren, doch irgendwann höre ich das Mädchen aufschreien und ich weiß, dass das Spiel für sie vorbei ist. Ihr Versteck war aber auch lächerlich einfach einzusehen. Im nächsten Moment atme ich jedoch erleichtert auf – Glück für mich, dass es so war.

Beruhigt, dass ich der Gefahr grade noch entronnen bin, will ich mich grade aus dem Staub machen, da laufe ich postwendend dem nächsten Werwolf in die Arme. Ein Mädchen mit einem blauen Armband taucht hinter einem umgestürzten Baum auf und rennt auf mich zu.

Diesmal überlege ich nicht lange, sondern wirble augenblicklich herum und renne, was meine Beine hergeben. Das Adrenalin, das zuvor schon begonnen hatte, sich in meinem Körper breit zu machen, scheint sich nun zu vervielfachen und mit rasender Geschwindigkeit springe ich über Baumstümpfe, ducke mich unter tiefhängenden Ästen durch und reiße mir die Hose an Brombeerranken auf.

WOLVES - the lies we use to tell || BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt