chapter twentyfour

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Santiago

Ich werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel und fahre mir durch die dunklen Haare. Das sanfte Licht der im Spiegel integrierten Lampen fällt auf meine erschöpfte Haut, scheint direkt auf meine Augenringe.

Wie lange ist es schon her, dass ich richtig ausgeschlafen habe? Dass ich mehr als sieben Stunden Schlaf abbekommen habe? Seit meinem zwölften Lebensjahr, um genau zu sein. Seit diesem einen Tag, der mich einerseits so unnormal glücklich gemacht hat, der auf der anderen Seite allerdings auch so viel Leid und Schmerz verursacht hat. Seit diesem einen Tag habe ich es nicht geschafft friedlich auszuschlafen. Selbst in meinen Träumen konnte ich nicht loslassen und vollends entspannen. Ich war und bin ständig auf der Hut, ständig in Sorge.

Im Gegensatz zu früher kann ich mich jetzt nämlich wehren und die Menschen beschützen, die mir so wichtig sind. Jetzt habe ich die Kraft und den Mut dazu.

Auch wenn ich diesen Instinkt gerne abschalten würde – allseits bereit zu sein, jemandem die Fresse zu polieren –, ist er mittlerweile tief in mir verankert. Nachts, wenn alles dunkel und still ist, sucht mich die Angst heim, schnürt mir oftmals die Kehle schmerzhaft zu. In dieser Zeit, in der ich ganz allein in meinem Bett liege und eigentlich schlafen möchte, kreisen meine Gedanken um all die Augenblicke in denen ich nicht allein war. Als ich all den Schmerz und die Panik nicht allein durchmachen musste, sondern hilflos dabei zusehen musste, wie andere darunter litten. Wie sie unter der Last eingingen.

Die Erinnerungen an meine angsterfüllte Familie kratzen an meiner Beherrschung. Ich liebe meine vier Geschwister und meine Mutter mehr als sonst etwas auf dieser Welt und würde alles für sie tun. Wirklich alles. Doch die Tatsache, dass ich damals genau das Gegenteil für sie getan habe, nimmt mich bis heute noch mit. Selbst wenn sich inzwischen alles zum Guten gewendet hat.

Ich blinzle die Bilder weg, nehme einen tiefen Atemzug in dem nach Erdbeerseife duftenden Badezimmer und starre mein übermüdetes Spiegelbild an.

Was damals passiert ist, hat mich für mein Leben geprägt. Ich habe mich durch all diese Ereignisse verändert, bin zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. All das Leid, all der Schmerz und all die Angst haben mich mein Leben lang begleitet und das werden sie auch weiterhin tun. Nur möchte ich nicht mehr ununterbrochen an das denken, was geschehen ist. Ich will endlich meine Vergangenheit in eine wasserdichte Kiste packen, diese mit etlichen Schlössern absperren und sie dann in eine metertiefe Schlucht schmeißen. Danach würde ich noch eine Tonne Sand darüber kippen, nur um auf Nummer sicher zu gehen.

Das wirst du aber niemals schaffen, wenn du ständig rumheulst!

Ehe ich mich weiter selbst bemitleiden kann, öffnet sich die Tür hinter mir und ein großgewachsener Mann betritt den Raum. Unsere Blicke kreuzen sich flüchtig im Spiegel, als er an mir vorbei geht und zu den Urinalen schlendert.

Ich richte die Krawatte meines marineblauen Anzugs und schaue auf meine Uhr an meinem rechten Handgelenk hinab. In drei Stunden startet unser Flieger. Genug Zeit um in aller Ruhe durch das Check-In zu gelangen und mir dann einen Podcast zu einem deutschen DAX-Unternehmen anzuhören.

Sobald ich die öffentliche Toilette verlasse und den stark besuchten Korridor des Flughafens betrete, fällt mein Blick auf eine Gestalt, die ich glatt vergessen hätte.

Tu nicht so, du hast die letzten beiden Tage an nichts anderes als an sie gedacht!

Sage bahnt sich einen Weg durch die Menschenmenge, einen schwarzen Koffer neben sich her rollend. Keiner scheint zu realisieren, wer sie ist, welchen Status sie in der Gesellschaft eingenommen hat. Sie schenken ihr kaum Beachtung, bilden keine extra Gasse, wie man es aus den ganzen Filmen kennt. Nein, sie scheint unter all den Reisenden förmlich unterzugehen, obwohl sie eine riesige schwarze Sonnenbrille auf der kleinen Nase platziert hat und mit ihrem topmodelartigen Walk deutlich heraussticht.

Als sie mich erreicht – ich habe mich nicht von der Stelle bewegt, glotze sie wie eine Statue an –, hebt sie ihr Kinn an und bringt mich glatt um den Verstand. Die Art wie sie ihre von Natur aus vollen Lippen teilt, um einen zickigen Kommentar abzugeben, verursacht ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen. Wie sie wohl reagieren würde, wenn ich mit meinem Daumen über diese kaum merkliche Kerbe in ihrer Unterlippe fahre? Oder wenn ich mit meiner Hand ihre reine Wange umfange?

Sie würde dir vermutlich eine Kopfnuss verpassen.

Als könnte sie meine Gedanken hören, hebt sie eine dunkle Braue an. „Wollen Sie mich den ganzen Tag anstarren, als hätte ich mir eine dritte Brust wachsen lassen oder wollen wir endlich zum Check-In?"

Ich lasse mir nichts anmerken und imitiere ihren Gesichtsausdruck. „Ich habe auf Sie gewartet und mir gewünscht Sie würden auf Ihren absurd hohen Schuhen umknicken. Also machen Sie sich keine Hoffnungen, dass mich Ihre kleinen Brüste interessieren würden, denn die sind das letzte auf das ich achte, wenn ich Sie sehe."

Das ist der einzige Konter, der mir einfällt. Einfallslos, kränkend und offensichtlich gelogen. Egal welcher Mann behauptet, an den Brüsten einer Frau nicht interessiert zu sein, lügt. Er lügt nach Strich und Faden und sollte dafür eine harte Kopfnuss verpasst bekommen.

Keine Ahnung, ob sie der Satz mit ihren Titten verletzt oder ob sie es nur überspielt – eigentlich habe ich an ihnen rein gar nichts auszusetzen, außer dass sie ständig bedeckt sind –, jedenfalls wirft sie ihre Haare in richtiger Bitch-Manier nach hinten.

„Das will ich doch hoffen, schließlich befinden wir uns hier auf einer Geschäftsreise. Da steht Professionalität an erster Stelle. Finden Sie nicht auch, Mr. Rodriguez?"

Sie betont die beiden Wörter absichtlich, rollt mit ihrer Zunge. Sie spricht es so aus, als würde es etwas verführerisches und durchaus verlockendes. Etwas verbotenes. Und diese Tatsache lässt mich für einen Moment die Leute um uns herum vergessen.

„Das haben Sie richtig erkannt, wobei ich mir doch ziemlich sicher bin, dass Sie dies nicht allein herausgefunden haben. Die Frage ist nur, wer Ihnen das Informationsblatt vorgelesen hat, schließlich werden Sie doch kaum selbst in der Lage dazu gewesen sein."

Ich blicke über meine Schulter zu den riesigen Anzeigetafeln, um herauszufinden, wo wir lang müssen. Besser gesagt, tue ich so, als müsste ich es noch herausfinden, weil ich in Wirklichkeit schon seit einer halben Stunde hier bin. Ich würde unnötige Komplikationen, wie ins falsche Flugzeug einzusteigen, sehr gerne vermeiden.

„Aber sparen Sie sich Ihre Andeutungen für jemand anderen auf. Jetzt müssen wir zum Check-In gelangen." Ohne auf sie zu warten, drehe ich mich um und marschiere durch den modernen Flughafen, ihre klackernden High-Heels dicht hinter mir hörend.

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