Kapitel 44

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Es vergingen einige Wochen. Es war wie eine Achterbahn der Gefühle. Mal war ich super euphorisch und hätte Bäume ausreißen können, und an anderen Tagen hätte ich am liebsten mich nur unter der Bettdecke verkrochen, um stundenlang zu heulen.

An das Blindwiegen musste ich mich sehr gewöhnen, aber inzwischen finde ich es nicht mehr schlimm. Die größten Probleme habe ich aber mit meinen Körperbild, sodass Frau Dohrmann mit mir anfing Spiegelkonfrontrationen durchzuführen. Es war unglaublich schwer. Ich sollte mich neutral beschreiben, ohne jegliche Wertung. In meinen Kopf kamen nur negative Gedanken auf, weshalb ich öfters einfach weinen musste. Ein anderes Mal sollte ich die Sachen zeigen, die ich am besten an mir fand.
Das war leichter gesagt als getan, denn ich wusste, dass ich meine Augen sehr mochte, denn sie waren die selben, wie die meines Vaters. Doch als ich sie dann genauer betrachtete sah ich diese leere in den Augen, schattiert und umrandet von dunklen Ringen. Eingefallene Wangenknochen und brüchigen und glanzlosem Haar.

Es war schrecklich. Das war nicht mehr ich.
Ich beschrieb Frau Dohrmann, was ich sah, da ich sehr überfordert war. Sie nickte anerkennend und krizzelte auf ihren Block und sagte anschließend: "Das ist die Krankheit Lia. Die Anorexie hat das mit dir gemacht. Stell dir vor, sie ist wie ein ekliger Bandwurm, der sich über Wochen bei dir einnistet und du bist ohne Hilfe machtlos. Genauso geht es dir mit der Anorexie."
Ich war also der Wirt und ich nährte sie täglich. Wieder und wieder.
Allein bei der Vorstellung lief mir ein Schauer über den Rücken.

Eine Frage stelle ich mir immer noch. Wieso kann ich sie nicht wirklich gehen lassen?

Diese Sitzung hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Heute war für mich ein schwieriger Tag, denn Jess's Entlassung stand an. Ich war unendlich traurig, dass sie ging, doch gleichzeitig freute ich mich für sie. Sie hat hier so vieles geschafft. Auch wenn sie nie wieder richtig gesund wird, weiß ich, dass sie es schaffen tut.
Als ich vom Wiegen kam, war sie gerade dabei ihre letzten Sachen in den Kopf zu stopfen. Dieser wollte einfach nicht zugehen.

"Lia gut, dass du da bist. Dieser blöde Koffer soll einfach nicht das tun, was ich ihm sagen! Setze dich Mal auch drauf." sagte sie grinsend.

"Na ob mein Gewicht ausreicht." sagte ich lachend, tat ihr aber gleich und setzte mich auch mit drauf. Mit gemeinsamen Kräften schafften wir es dann doch den Koffer zu schließen.
Schweigend saßen wir eine Weile nebeneinander. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und lehnte ihren Kopf an meinen.

"Ich möchte nicht, dass du gehst." murmelte ich leise und atmete flach um meine Tränen zu unterdrücken.

"Ich auch nicht. Es fühlt sich so surreal an. Aber du schaffst das Maus. Auch ohne mich wirst du zurecht kommen. Du bist eine Kämpferin meine Liebe. Alleine was du bis jetzt für dich aber auch für mich getan hast, ist unglaublich." sie legte einen Arm um meine Taille und drückte mich kurz an sich.

"Hör auf, sonst muss ich gleich richtig losheulen." sagte ich kichernd und wischte mir über die feuchten Augen.
Jess fing an zu lachen. Aber ich wusste, dass es ihr genauso schwer viel.

Ich stand auf und reichte ihr meine Hand. Sie zog sich hoch und stellte den Koffer auf.

"Zeit zu gehen." sagte sie und streckte sich. Sie nahm ihren Koffer und ihre Handtasche und ging mit mir gemeinsam nach unten. Jess hatte beschlossen in eine Wohngruppe zu ziehen. Kontakt zu ihrer Familie wollte sie keinen mehr, was ich verstehen konnte, nachdem was mit ihrer Schwester war.

Unten angekommen wartete auf sie eine Frau neben Jess Therapeuten. Sie hatte lange braune Haare und wunderschöne weibliche Kurven. Sie grinste Jess an.
"Hallo Jess! Ich bin Claudia, deine Sozialarbeiterin." sagte sie und reichte Jess die Hand.

Perfect for you! [Geschichte einer Magersucht]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt