Kapitel- 47

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Der Frühling begann. Ich liebte ihn, denn endlich kam die Sonne wieder heraus und die Natur nahm ihre bunte Tracht an.
Das neue Jahr kam schneller als ich gedacht habe. Auch wenn dieser eine Monat nach Neujahr sich ohne Aiden schrecklich lange anfühlte.
Für mich war es dennoch ein Jahr wie jedes andere auch. Mein einziger Wunsch, den ich schon seit Monaten mit mir herum trage, erfüllt sich immer wieder in kleinen Schritten. Ich konnte in den letzten Monaten mehr als nur einmal spüren, welchen Rückhalt ich zu Hause hatte. Meine Familie, meine Freunde und auch Aiden, gaben mir mehr denn je das Gefühl, dass ich liebenswert bin. Vielleicht spürte ich es so vermehrt, weil ich lerne mich selbst zu akzeptieren und zu lieben.
Frau Dohrmann nannte es immer einer der "Säulen" in meinen Leben, die mein Fundament festigen.
Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal annähernd diese reflektierte Wahrnehmung, indem was ich tue, gefühlt habe.
Die Monate hier vergingen wie in Fluge. Sie waren alles andere als leicht. Mehr waren sie wie der letzte Lebenskampf, den ich mit mir geführt habe. Man könnte sie als die schrecklichsten und gleichzeitig die lehrreichsten Monate bezeichnen.
Alleine Hilfe anzunehmen und zu akzeptieren, dass ich die Hilfe benötige, war der schwerste Weg. Am Ende fühle ich mich wie der letzte Trottel, der es nicht einsehen wollte, dass ich die Hilfe brauche und ich sie annehmen darf, egal wie tief mein Gewicht ist oder wie krank mein Kopf für mich war!
Es fällt mir ehrlich gesagt immer noch nicht leicht. Der Blick in den Spiegel wird leichter, auch wenn es oft mir eine grässliche Fratze zeigt. Eine die ich nicht bin. Eine Version von einer Lia, die ich nie war.
Ich konnte die guten Tage langsam nicht mehr an einer Hand abzählen. Gefühlt wurden es immer mehr.
Die schönen Momente im Leben nahm ich bewusster wahr und schloss sie tief in mein Herz ein.

Heute stand die Auswertung meines Langzeit-EKGs an. Meine Nervosität nahm heute kein Ende. Mein ganzer Körper war unruhig und ich rutschte auf den Stuhl nervös hin und her. Herr Dr. Scholl guckte in seine Unterlagen.

"Also Lia, ich habe mich mit den Kollegen in der Kardiologie ausgetauscht. Es scheint momentan so zu sein, dass du  Arrhythmien hast. Das heißt eine Herzrhythmusstörung, die eine Folge deiner Anorexie ist. Wir gehen aber aus, dass wir sie mit Medikamenten weiterhin gut in Griff bekommen. Wir werden es wahrscheinlich mehrere Monate beobachten müssen, ob es zur einer Chronifizierung kommt oder es eine vorübergehende Episode ist. Wir gehen aber von zweitem aus. " sagte Herr Scholl und schaute von seinen Unterlagen auf.
Nervös schaute ich ihn an.

"Was heißt das für mich? Außer Medikamente?" fragte ich unsicher.
Er rückte seine Brille auf der Nase nach hinten.
"Nun wir werden noch wahrscheinlich weitere Untersuchungen machen müssen. Zum Beispiel ein Belastungs-EKG. Außerdem solltest du bei deiner Ernährung aufpassen. Das werde ich nochmal mit dem Team absprechen, sowie auf Kaffee und Alkohol in Zukunft verzichten."

Ich nickte darauf nur. Es klingt im ersten Moment schlimmer als es ist.
"Also muss ich in Zukunft noch mehr auf mich achten?" fragte ich ihn, worauf sich seine Mundwinkel leicht zuckten.

"Das solltest definitiv mehr. Auch wenn du in deinen halben Jahr bei uns anfänglich sehr starke Probleme bei der Einschätzung deines Gesundheitszustandes hattest, kann ich als Arzt dir raten, weiter darauf zu hören, wenn sich etwas komisch anfühlt. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Ich bin mir sehr sicher, dass du deinen Weg gehen wirst Lia." Er gestikulierte dabei auf seinen Kopf und sein Herz. Ich lächelte daraufhin zaghaft, welches er als Bestätigung annahm.
Weitere Behandlungen waren für mich kein Problem. Ich musste auf mich mehr achten. Dennoch hatte ich Angst. Was wenn ich es nicht schaffte und mein Herz dies nicht aushielt?
Gedanken versunken lief ich in mein Zimmer. Es war so leer ohne Jess. Sie brachte Leben in dieses Zimmer. Ohne sie musste ich dieses Zimmer alleine mit strahlender Wärme, den Duft von Vanille und Zimt und Lachen füllen.
Ich setze auf mein Bett und legte mein Kopf auf den Fenstersims ab und schaute in den Garten.
Das schönste, was das neue Jahr mit sich brachte, war der Frühling, der bald vor der Tür stand. Die Dunkelheit, die für mich den ganzen Tag anhielt, nahm endlich ab. Morgens nahm ich schon die Vögel deutlich mehr wahr und die ersten Sonnenstrahlen kitzelten meine Nase deutlich früher, wenn ich mich nach den Frühstück meine Ruhezeiten im Gruppenraum einhielt.
Vor meinen Fenster stand eine große Eiche. Sie war alt und tief verwurzelt und ihre Krone reichte bis über das Dach des Klinikgebäudes. Die Äste waren verzweigt, aber noch ganz kahl vom Winter. Ein Amselpärchen hatte sich auf einen großen Ast sich ein Nest aus herumliegenden Zweigen und all möglichen anderen Materialien gebaut. Ich fragte mich, wann sich das Kleine aus dem Vogelei herauspicken würde.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 21, 2022 ⏰

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