Prolog - Am Rande des Abgrunds

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Sie stand am Rand des Abgrunds der Verzweiflung. Nicht nur psychisch, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes. Sie stand wortwörtlich an einem Abgrund und sah hinab in den tiefen Schlund der Stadt. Ihre Fußspitzen überragten bereits den Rand und seelenruhig aus gläsernen Augen starrte Lyana einfach nur in die Tiefe. Sie verspürte nichts. Keine Angst, keine Erwartung, einfach gar nichts.

Die Menschen und Autos da unten wirkten so winzig, klitzeklein wie bedeutungslose Ameisen. Von hier oben machte es den Anschein als könnte man die Welt darunter unter seinen Fußsohlen einfach platt treten. Der Lärm der fahrenden Autos und der Sirenen drang nur dumpf bis aufs Dach des Hochhauses, wo die Geräuschkulisse von der sanften Brise nahezu verweht wurde. Der Wind strich ihr nahezu beruhigend durchs Haar und über die Wange.

Ihr Herz pochte ruhig und gleichmäßig, während die gähnende Tiefe, die Schlucht zwischen den Hochhäusern eine ungewöhnliche Faszination in ihr auslöste als streckten sich ein paar liebevolle Arme nach ihr aus und wollten sie zu sich ziehen. Das dumpfe Hupen der Autos klang irgendwann wie ein Ruf – Komm her, komm her.

Lyana blinzelte und stierte weiterhin abwesend nach unten und beobachtete das rege Treiben in Miniaturformat. Sie zitterte nicht mal mehr. Bis vor kurzem hatte sie noch fürchterlich gezittert und Tränen waren ihr nur so über die Wangen gerannt, doch jetzt war sie so friedlich und ruhig. Der Wind hatte ihre Tränen getrocknet und die faszinierende Tiefe beruhigte aus unerklärlichen Gründen ihr Gemüt.

Wenn sie die Arme ausstrecken würde, könnte sie wenigstens für ein paar Sekunden fliegen, so frei wie ein Vogel. Frei von allem. Frei von Last. Frei von plagenden und gepeinigten Gefühlen und Gedanken. Sie müsste sich keine Gedanken mehr um die Zukunft oder die Vergangenheit machen. Sie wäre einfach frei dann, frei...

Nur ein winziger Schritt. Ein Schritt noch nach vorne und sie würde über die Schwelle des Unbekannten treten und eine Reise antreten, bei der niemand sagen konnte, wohin diese Reise führte. Was war nach dem Tod? Bekam man ein neues Leben an einem anderen Ort, einem anderen Planeten, vielleicht gar einem gänzlich anderen Universum? Irrte auf ewig ziellos die Seele umher? Wird man wieder geboren? Gibt es so etwas wie den Himmel und die Hölle überhaupt? Erinnerte man sich überhaupt danach noch an irgendetwas?

Ihre Erinnerung wollte sie gewiss nicht behalten, aber die Ungewissheit was danach geschehen würde mit ihrem Geist und ihrem Körper, ließ ihr nun doch einen kalten Schauer über den Rücken jagen. Warum machte die Ungewissheit einem so Angst? Warum war die Ungewissheit manchmal furchtsamer als die Gewissheit mit samt ihrer Süße als auch ihrer Bitterkeit?

Lyana schluckte und schürzte kurz die Lippen. Vielleicht könnte sie ihre Mutter wiedersehen. Das wäre es wert diese Armseligkeit im Hier und Jetzt hinter sich zu lassen, aber was, wenn nur pure Schwärze sie verschlucken würde und sie auch im Jenseits wie im Diesseits alleine wäre? Was wenn sie weiterhin alleine bliebe?

Erneut fuhr ihr ein eiskalter Schauer über die Wirbelsäule, als würde ein glitschiger Blutegel darüber gleiten.

Wenn sie doch nur Gewissheit hätte, dann hätte sie keine Hemmung zu springen. Nur ein paar Sekunden. Nur wenige Sekunden dann würde sie auf dem Boden aufschlagen und alles wäre vermutlich vorbei. Höchstwahrscheinlich würde sie nicht mal große Schmerzen spüren, wenn ihr Körper auf das Kopfsteinpflaster des Gehweges aufschlug und zu Matsch verarbeitet wurde. Aber diese Ungewissheit plagte mindestens genau so sehr wie das Hier und Jetzt, die Realität, die sie verfolgte. Sie konnte weder vor noch zurückgehen. Sie war gefangen in einem Twist auf der Suche welcher Schritt sie am ehesten befreien würde und recht war.

Die Schmerzen vor dem Aufprall machten ihr weniger Sorgen, wie das Unbekannte danach. Vermutlich währen es sogar nur Millisekunden, in denen sie irgendetwas spüren würde. Es wäre gewiss schneller vorbei als ihr Kopf das zuordnen konnte, denn der würde Platzen wie eine Melone, die man auf den Boden warf. Das verteilte Blut, Hirn und Eingeweide was dann da unten liegen würde, das hätte die Welt und Gesellschaft zu verschulden, aber keinen würde es scheren. Niemand würde den Dreck wegkehren, alle wären entsetzt und schon morgen hätten alle es vergessen und von ihr blieb nicht mal mehr ein Fettfleck auf der Straße.

Super Psycho Love -  [A Jerome Valeska Story] - GothamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt