Ich schlafe die Nacht durch und wache am nächsten Morgen mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Ich ziehe mir meine schwarze, lockere Jeans an und eine hellblaue Bluse. Beides ist neu, denn ich habe sie erst vergangene Woche gekauft, als ich mit Earl bei Walmart war. Bei der Gelegenheit habe ich mich auch nach einem Laden für sein Geschenk umgeschaut.
Ich stelle alle Zutaten bereit und lese dann die Anleitung auf der Brownie Verpackung. Zwei Mal. Mein Strom und Wasser geht immer noch nicht, so dass ich Milch, Eier, Zucker und das Pulver nur vermische. Auf dem Weg nach unten binde ich mir einen Zopf und kaufe dann zwei Croissants, zwei Franzbrötchen und zwei Stück von dem hausgemachten Apfelcrumble.
Mit der Rührschüssel, der Tüte vom Bäcker und Earls Geschenk bewaffnet, mache ich mich pünktlich auf den Weg zu Earl. Nach meinem Klopfen öffnet er ein Schloss nach dem anderen und begrüßt mich mit einem kaum bemerkbaren Lächeln. Ich sehe sofort, dass er nicht gut drauf ist.
Er deutet Richtung Küche und ich gebe jeweils die Hälfte des Teigs in eine Pappform. Ich stelle den Ofen an und lege dann das Gebäck auf den gedeckten Tisch. Earl sitzt in seinem Sessel und starrt in seine Tasse. Eigentlich hatte ich geplant ihm sein Geschenk erst heute Abend nach der Sitzung zu geben, aber ich habe das Gefühl, dass er es gerade dringend braucht.
"Frohe Weihnachten, Earl." Ich überreiche ihm das kleine Päckchen, das in rotes glänzendes Papier eingewickelt ist. Er schaut überrascht hoch und seine Augen weiten sich. Ich bilde mir ein, eine leichte Röte über seine dunkle Haut huschen zu sehen und unterdrücke ein Schmunzeln. "Das wäre doch nicht nötig gewesen." Er räuspert sich und streicht fast zärtlich über die weiße Schleife. "Oh doch", widerspreche ich ihm lächelnd und wende mich ab. Aber sowas von.
Ich überprüfe die Temperatur der Brownies und wasche dann die Rührschüssel ab. Anschließend setze ich neues Teewasser auf und bleibe mit dem Rücken zu ihm an der Küchenzeile stehen.
"Tate!" Meine Finger verkrampfen sich und ich verfluche mich innerlich. Ich bin doch zu weit gegangen! Sein Gesicht wirkt gefasst, aber als er meinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkt, wird seine Miene sanfter. Mit einer zärtlichen Bewegung streicht er über das Foto in seiner Hand. "Wusstest du, dass sie bei unserem ersten Treffen genau so aussah?" Er lächelt verträumt und wirkt gleich wieder zehn Jahre jünger.
Ich schüttle den Kopf und setze mich in den Sessel ihm gegenüber. "Sie war wirklich schön." Er nickt zustimmend und seufzt. "Ja, innerlich wie äußerlich." Er steht auf und umschließt mit zitternden Fingern das Medaillon, das er von der Kommode im Flur hebt. "Ich habe schon lange die Hoffnung aufgegeben, sie nochmal so jung und schön wie auf diesem Bild zu sehen. Ich weiß nicht wie, aber danke, dass du es möglich gemacht hast." Ich lächle erleichtert und schenke uns neuen Tee ein.
Er stellt den Bilderrahmen mit dem Foto seiner Frau auf den kleinen Esstisch. Immer wieder gleitet sein Blick zur Seite ab. Das aufgeklappte Medaillon zeigt die kleine Schwarzweiß Version des Fotos. Die vergilbten Ränder sind mir schon bei meinem Besuch hier aufgefallen. Es kommt mir vor als wäre es Monate her, dabei sind es gerade mal drei Wochen.
Wir frühstücken und genießen zum Abschluss die Apfelcrumble, die wir kurz in den noch warmen Ofen legen. Die Brownies kühlen auf der Herdplatte. "Heiligabend haben wir immer zu viert verbracht. Am ersten Weihnachtsfeiertag sind wir oft zu Verwandten gefahren oder haben Besuch bekommen, aber der Tag davor gehörte immer nur uns. Wir haben Pfannkuchen gegessen, gespielt und uns alte Fotos angeschaut." Earls melanchonischer Blick ist auf das Foto geheftet und seine Hände zittern, während er das Medaillon umklammert.
"Für Pfannkuchen habe ich keinen Platz mehr, aber es würde mich freuen, wenn du mir ein paar Bilder von deiner Familie zeigen würdest." Ich lächle vorsichtig und werde von Earls glänzenden Augen belohnt. "Dann mach du uns eine Kanne Kaffee. Bluthochdruck hin oder her." Ein jugendliches Grinsen umspielt seine Lippen, während er sich aus dem Sessel hochstemmt und anschließend in sein Schlafzimmer verschwindet. Sein Gang ist leichtfüßig und sein Rücken wieder kerzengerade.
Nachdem ich den Kaffee aufgesetzt habe, verschiebe ich die Sessel etwas und spüle unsere Tassen aus. Die nächsten Stunden verbringen wir über seine Fotoalben gebeugt. Bei manchen Fotos erzählt Earl wie es zu dieser Situation kam oder was unmittelbar davor oder danach passiert ist. Und manchmal sagt er gar nichts.
Wir essen zwischendurch ein paar Bownies und lösen uns erst von den Fotoalben als es Zeit ist zum Meeting aufzubrechen. "Danke fürs Zuhören, Mädchen." Ich winke beschämt ab. Im Gegensatz zu dem, was er für mich getan hat, ist das hier gar nichts.
Beim Meeting angekommen begrüßt Susen uns herzlich und ich stelle voller Stolz meine Brownies ab. Das ist das erste Mal, das ich etwas zum Büfett beisteuere. Mein Blick wandert erstaunt über die Anwesenden. Ich habe eigentlich gedacht, dass heute weniger Leute hier sind als sonst. Die übliche Teilnehmeranzahl von fünfzehn überschreiten wir nur selten. Heute sind wir zweiundzwanzig. Zweiundzwanzig einsame Menschen, die nicht wissen, wohin mit sich.
Susen hat seit meinem ersten Treffen nicht nochmal etwas gesagt und beginnt das Treffen mit ihrer üblichen Routine. Ich folge einem Beitrag nach dem Anderen.
Als ich zum ersten Mal in diesem Kreis saß waren das hier Fremde, jetzt kenne ich sie und ihre Geschichten. Die Frau mit den zwei Kindern, die um das Sorgerecht kämpft, trägt auch heute ein Kostüm. Ihr Name ist Miranda. Der Mann, dessen Frau im Krankenhaus liegt und dort wohl auch so schnell nicht wieder weg kommt heißt Andy. Seine Frau heißt Lorel. Schräg gegenüber von mir sitzt der siebzehnjährige Malcom, der seit drei Monaten clean ist. Er wohnt mit seiner schwangeren Freundin bei seinem Bruder.
Heute geht niemand direkt nach dem Schlussgebet. Auch die, die mir neu sind, scheinen für die anderen bekannte Gesichter zu sein. Vor Allem ein älterer Mann mit Anzug und weinroter Krawatte unterhält sich mit fast jedem und klopft Malcom väterlich auf die Schulter. Ich schnappe mir zwei Pizzaschnecken und gehe mit der Serviette zurück auf meinen Platz.
Earl und Susen stehen am Eingang und Mila, nach der ich immer noch Ausschau halte, ist nirgendwo zu finden. Ich habe die leise Hoffnung, dass sie zum 19 Uhr Meeting auftaucht, aber ich schätze die Chance als erschreckend gering ein.
Niedergeschmettert kaue ich auf dem Blätterteig herum und schnappe mir dann noch zwei Spieße. "Hallo, sie kommen mir irgendwie bekannt vor."
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Danke fürs Lesen❤️
Falls ihr meine Geschichte „Talk Dirty to me" noch nicht kennt, würde es mich freuen, wenn ihr da mal vorbei schaut. Es ist zwar eine Paid Story, aber indem ihr euch Werbung anschaut könnt ihr die geblockten Kapitel auch frei schalten. 🧡
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Never Falling Deeper | Abgeschlossen
RomanceTate Mitchels weiß genau, was sie will und was nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben geht es ihr gut, wirklich gut. Sie hat Freundinnen, arbeitet, kann sich ihren Lebensunterhalt verdienen und studiert Journalismus. Das ist, was sie will. Ein normale...