45

347 27 3
                                    

"Ähm, ja." Sie wird rot und meidet sowohl Tonis als auch meinen Blick. "Vielleicht", räuspert sie sich "liegt es im Bereich des Möglichen, dass ich mit Spenc rumgemacht habe."

"Was?", enfährt es mir schockiert, bevor ich es verhindern kann. Sie hebt den Blick nicht, als sie fortfährt. "Wir haben uns alle getroffen, wollten etwas Normalität in unsere Freundshaft zurückholen, aber die Stimmung war so schlecht, dass es gar nicht klappen konnte. Cole ist als erstes gegangen, Toni und Robin kurze Zeit später. Dann ist es einfach passiert."

"Ich weiß, wie dumm das klingt. Wir haben uns umarmt, einander Halt gegeben und dann waren seine Lippen meinen so nah, dass ich nicht anders konnte." Ihre Stimme wird wieder kräftiger. "Wir haben uns nur geküsst, lange und es war... beunruhigend schön. Aber wir sind nicht weiter gegangen."

"Bereust du es? Nicht den Kuss überhaupt, sondern nicht weiter gegangen zu sein?" Liss wirft mir bei meiner Frage einen kurzen, gequälten Blick zu. Einen Blick, der alles sagt. "Das ist über zwei Wochen her und wir haben seitdem kein normales Wort mehr miteinander gesprochen. Er fühlt sich von mir zurück gewiesen, jedenfalls denke ich das und ich... ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll."

Ich greife ihre Hand und umschließe sie mit meiner, stütze mein Kinn auf ihre Schulter und sage ihr ohne Worte, dass ich für sie da bin. "Obwohl ich es nicht denken will, glaube ich, dass es ein Fehler war." Sie spricht leise, ruhig und vor allem eins - resignierend.

"Liss, nimm dir das jetzt einfach nicht zu sehr zu Herzen. Es war ein Kuss und ihr kriegt das wieder hin. Mit ein bisschen Zeit werdet ihr beide damit klar kommen und wieder normal miteinander umgehen, du wirst sehen!" Toni versucht sie aufzumuntern, aber die Last hat sich schon zu schwer um Liss Herz gelegt. Sie zuckt ausweichend mit den Schultern. Es ist klar, dass sie ihr nicht glaubt.

"Toni, du bist dran. Erzähl etwas", fordere ich sie auf, um Liss die Möglichkeit zu geben, wieder zu Atem zu kommen. Sie räuspert sich und richtet sich auf. "Ich habe etwas getan", gibt sie unumwunden zu. Auch jetzt ist nichts von ihrem Selbstvertrauen zu sehen. Es ist als sehen wir uns alle das erste Mal wirklich. Ohne Mauern, ohne vorzugeben,  etwas zu sein, was wir eigentlich nicht sind.

"Ich war bei der Polizei. Maja hat Liss erzählt, dass sie dort ein Praktikum gemacht hat. Und dann konnte ich einfach nicht anders. Ich habe es ihnen erzählt. Von der Nacht. Ich... wir alle hatten solche Schuldgefühle. Du warst weg, wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wie wir dir helfen können. Ich habe es getan ohne den Anderen Bescheid zu geben. Wir hatten überlegt alle zusammen zur Polizei zu gehen. Cole hat sogar mit seinem Vater gesprochen, aber der hat sich geweigert, dich zu suchen." Liss ist jetzt diejenige, die meine zitternde Hand umklammert hält.

Mir wird eiskalt. ich spüre förmlich, wie ich dabei bin abzuschalten, weil ich das hier nicht ertragen kann.

"Ich habe einfach alles erzählt. Aber wie befürchtet hat das überhaupt nichts gebracht. Sie haben nicht mal mit ihm gesprochen." Tränen laufen über ihre Wange. "Ich glaube, ich habe es schlimmer gemacht", gesteht sie leise. Zwei Sekunden später springe ich auf und beuge mich würgend über die Toilettenschüssel.

Polizei. Nichts gebracht. Schlimmer, immer schlimmer.

Es dauert bis ich wieder zu Atem komme und auf wackligen Beinen aufstehe. "Sorry, das war viel auf einmal." Ich spüle mir den Mund aus und wasche mir dann gründlich das Gesicht. Ich schminke die verbleibenden kläglichen Reste meines Make-ups ab und schon schaut mir wieder das trostlose Gesicht der vergangenen Wochen entgegen.

"Hätte es dir nicht übel genommen, wenn du wirklich gekotzt hättest." Mit einem schiefen, vorsichtigem Grinsen sieht Toni mich an und ich erwidere es. Diese beiden Frauen. Ihre unerschrockene Ehrlichkeit und ihre unverrückbare Liebe.

Der heutige Abend war bisher eine kurze Atempause von der Realität. Aber die ist jetzt vorbei. Es klopft und Liss öffnet Mila die Tür. Ein kurzer Blick auf mich sagt ihr alles. "Komm mit", fordert sie mich auf, greift meiner Hand und zieht mich in mein altes Zimmer. Sie dreht die Musik auf und schließt hinter Toni und Liss die Tür.

"Es ist elf Uhr. Das neue Jahr fängt in 60 Minuten an. Du entscheidest, wie du es beginnen willst." Ich sehe ihr in die Augen. Sie leuchten heller, als in den letzten Wochen. Vielleicht sogar heller als je zuvor. Es liegt eine Kraft und eine Lebendigkeit in ihnen, um die ich Mila beneide. Und deshalb reiße ich mich zusammen. Nicht für mich. Nicht nur für mich.

Ich denke an Earl und seine unerschütterliche Ruhe seine Worte, die so ehrlich sind, dass es wehtut. "Denn wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende." Er hat dabei gelächelt und ich habe genickt, weil ich es endlich verstanden habe. Es geht nicht um den Absturz, um den Fall, es geht darum wieder aufzustehen, weiter zu machen, egal was passiert ist.


Never Falling Deeper | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt