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"Er mochte es grob. Und ich habe mir eingeredet, dass ich es auch  mochte. Ich habe nicht Stop gesagt, wenn es mir zu viel wurde und ihm  nie Einhalt geboten, wenn er zu weit gegangen ist.

Nur wenige Wochen später haben meine Pflegeeltern mich vor die Tür  gesetzt, weil sie herausgefunden hatten, dass ich gestrippt habe. Haldan  hat mich aufgenommen und da mir klar war, wie tief ich in seiner Schuld  stand, habe ich alles für ihn getan. Ich habe ihm nicht widersprochen. Ich habe nie nein gesagt. Er hat mich immer und überall  genommen, wenn wir erwischt wurden hat er nur gelacht und weiter  gemacht, während ich mich in Grund und Boden geschämt habe.

Die Schule war für mich in dem Moment vorbei, als der Direktor bei  einem meiner Tänze auftauchte. Danach bin ich einfach nicht mehr  hingegangen. Die Scham, die ich vorher immer sorgfältig und penibel verdrängt habe, hat  mir keine andere Wahl gelassen. Im Pflegesystem war ich nur eines von  vielen Kindern, das unter dem Radar verschwunden ist.

Als Haldan eines Abends mit Sorgenfalten zurück in unseren Wohnwagen kam  und mir mitteilte, dass der Club nicht gut läuft, habe ich ihn  tröstend in den Arm genommen. Ich tanzte damals schon fast zwei Jahre und war  mir sicher, dass ich es noch besser machen konnte. Er lachte traurig,  als ich ihm das erzählte und flüsterte erschöpft, dass das wohl nicht  reichen würde. 'Was können wir dann tun', fragte ich aufgebracht. Ihn  leiden zu sehen, war das Schlimmste überhaupt für mich.

Er antwortete nicht sofort. 'Wir müssen mehr Geld verdienen',  niedergeschlagen vergrub er seinen Kopf an meinem Brüsten. Dann schob er  mein Kleid hoch. Ich mochte es nicht komplett entblößt zu sein, aber  sein warmer Atem auf meiner Haut gefiel mir. 'Sie sind so schön', wisperte  er und ich bog den Rücken durch, als er sie fest kniff. Ich wusste das  ihm das gefiel und das gefiel mir. Grinsend schlug er vor einen Porno zu  drehen und klapste mir auf den Hintern, als er meinen schockierten  Blick sah.

Dann sagte er: "Mit so vielen will ich dich nicht teilen." Mein  naives Ich sah das als Kompliment, doch zwei Abende später, als er mit  gerötetem Gesicht und pochender Halsschlagader zurückkam, änderte sich  das. 'Wir müssen hier weg', sagte er und begann unsere Sachen zu packen.  Ich versuche ihn zu beruhigen, aber er schubste mich weg. Er brüllte und  tobte und warf Gegenstände umher. Dann wurde er still und sank auf dem Boden  zusammen. Er erzählte von seinen Schulden und da war es wieder. Das  Gefühl gebraucht zu werden und eine Lösung parat zu haben. Ich wusste  das einige der Mädchen sich noch etwas dazu verdienten und rechnete es  ihm hoch an, dass er mir das nicht vorgeschlagen hat." Etwas Warmes  fließt über meine Hand und bei einem Blick nach unten sehe ich, dass  meine Fingernägel meine Handinnenfläche aufgeritzt haben. Earl folgt  meinem Blick, holt ein nasses Tuch, tupft die Wunde ab und bindet einen  Verband darum.

"Erzähl weiter", fordert er mich auf und ich tue es, bevor mich der Mut doch verlässt.

"Es war ja meine Idee, er sträubte sich anfangs sogar, hat es dann  aber doch zugelassen. Am nächsten Abend wurde mir eins der Zimmer im  Keller zugewiesen. Es waren fünf obwohl ich immer der Meinug war, dass  es nur eins oder zwei sein können. Khadira gab mir mehr Wodka als sonst  vor den Auftritten. Sie regelte alles, was mit Geld zu tun hat. Ich  musste einfach in meinem Zimmer bleiben und warten. Wir hatten ein  Safe-Word und da die Wände nicht besonders schalldicht waren, beruhigt  mich der Gedanke, dass Khadira und die anderen Mädchen in der Nähe waren  tatsächlich. Ich habe überlegt es auszuprobieren und zu testen, was  passiert. Hatte aber zu viel Angst, dass sie dann,  wenn wirklich etwas  war, nicht kamen.

Der Abend war grauenhaft. Ich habe die Flaschen im Nachtschrank  geleert, bis es mich nicht mehr interessiert hat, was mit mir geschah.  Was zuerst nur zweimal in der Woche stattfinden sollte, war plötzlich  jeden Abend. Haldan begann mir Blumen zu kaufen und mich liebevoll auf  die Stirn zu küssen. Er versicherte mir täglich, wie sehr er mich liebt  und wie dankbar er mir ist. Er sagte, dass sei nur ein Job und ich solle  einfach abschalten. Ich versuchte es.

Nach drei Monaten als ich morgens in meinem Zimmer aufwachte, war  alles anders als sonst. Schon seit Wochen war ich nicht mehr in der Lage nach der Arbeit zum Wohnwagen zurückzugehen und schlief dort. An diesem Morgen waren die Türen offen. Es war hell und überall  waren laute Stimmen zu hören. Ein Sanitäter brachten mich zu einem  Krankenwagen und legte mir eine Decke um die Schultern. Er redete mit  mir, machte sich Notizen und eilte dann zu einem Kollegen. Überall war  Blaulicht, es wimmelte von Polizisten. Männer mit Spezialuniform  brachten Pakete in einen Lieferwagen. Haldan und sein Vater wurden  gerade in zwei Polizeiautos gesetzt.

Bevor Haldans Blick meinen traf, sprang ich auf und rannte. Ich  stoppte erst als ich beim Wohnwagen angekommen war. Ich zog mir etwas an, packte  meine Sachen und Haldans Notfallgeld, dann tramte ich zum Busbahnhof und  stieg in den nächsten Bus, der zu einem Ort fuhr, dessen Namen ich  nicht kannte.

Ich wohnte in einem Motel und machte meinen Schulabschluss über Fernkurse. Dann suchte ich nach Unis, die mindestens drei Bundesstaaten von Minnesota entfernt sind und landete hier."

Ich hatte meine Augen zusamen gepresst, als ich durch Earls sanften Händedruck langsam wieder in der Realität ankam. Es war wie eine Traumreise gewesen, ein Alptraum, ich hatte alles nochmal erlebt. Alles nochmal gespült. Die anfängliche Euphorie, die Scham, die Angst und schließlich Erleichterung. Das ich es geschafft habe alles laut auszusprechen kommt mir unrealistisch vor. Dabei sagen mir die Tränen, die über Earls Wange laufen, dass es sehr wohl wahr ist.

"Mädchen,..." In Earls dunklen Auge lag ein Schmerz, der mir den Atem stocken lässt. "An deiner Geschichte gibt es nichts, was unaussprechlich ist. Nichts worüber es sich nicht zu sprechen lohnt. Nichts, wofür du dich schämen musst. Er hat dich manipuliert. Er hat dich ausgenutzt. Aber du hast alles überstanden. Du hast überlebt."

Ob es seine Worte waren oder die Tatsache, dass ich es das erste Mal ausgesprochen habe, ich sehe plötzlich alles in einem anderen Licht. Das erste Mal erlaube ich, dass in mir zu sehen, was ich war, das, was ich immer noch bin. Ein Opfer. Von ihrem vier Jahre älteren Freund physisch missbraucht und zur Prostitution gezwungen.

"Danke, dass du es mir erzählt hast." Ein warmer Gesichtsausdruck liegt auf seinem Gesicht und die Falten um seine Augen ziehen sich zusammen. "Was du am Anfang gesagt hast, dass du jetzt dein wahres Ich bist. Für mich klingt es so als wärst du die letzten zwei Jahre erst zu deinem wahren Ich geworden. Du hattest vorher doch gar keine Chance dich selbst zu finden. Sieh das hier nicht als ein Rückschlag. In Wahrheit ist es der größte, mutigste und wichtigste Schritt, den du machen konntest."

Während der nächsten Tasse Tee lassen wir das Gesagte einfach nur sacken. Mein Kopf ist so klar wie schon seit Wochen nicht mehr und obwohl ich alte Wunden schmerzhaft aufgerissen habe, spüre ich, dass sie jetzt verheilen werden. Die Narben werde bleiben, aber sie werden verblassen.

Earl besteht darauf, mich zu meiner Wohnung zu bringen. Ich schließe meine Tür auf und lächle Earl dankbar an. "Na, sieh mal einer an." Ein schiefes Grinsen legt sich um seine Mundwinkel. "Ich habe gehofft, dass ich dein echtes Lächeln noch zu sehen bekomme."

Verlegen lege ich den Kopf schief und wringe meine Hände. "Gute Nacht, Earl. Bis morgen."

"Bis morgen, Tate. Wir sehen uns um acht zum Frühstück bei mir." Ich nicke immer noch lächelnd und lege mich das erste Mal seit fast drei Wochen mit einem guten Gefühl auf meine Matratze. Es wird alles wieder gut. Ich weiß es genau.

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💔

Was erhofft ihr euch für Tate?

Never Falling Deeper | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt