Teil 48

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In dem Moment, wo Helga mit ihrer Enkelin, auf Franz und Helene zuging, drehte sich die Sängerin um und schaute ihre Tochter lächelnd an, wobei sie einen Schritt beiseitetrat und ihr somit den Blick auf eine weitere, in diesem Raum, anwesende Person, freigab.

Für einen Bruchteil einer Sekunde schliefen Halie sämtliche Gesichtszüge ein. Mit vielem hatte sie gerechnet. Sie hätte erwartet, dass ihre Großeltern noch jemanden mitgebracht hatten. Aber mit ihrem Vater? Niemals!

Unsicher lief sie weiter im Arm ihrer Oma, auf die kleine Gruppe zu.

Von Stolz ergriffen, versuchte Florian sich ganz geradezumachen und sprach sie von sich aus an.

„Hal-lo – Ha-lie."

Plötzlich blieb das Mädchen stehen. Ließ sich von Helga auch nicht weiterziehen. Zu verwirrt war sie.

Ja klar, sie wusste, wer der Mann in diesem komischen Stuhl war und Angst hatte sie auch nicht vor ihm. Dennoch war es ein ganz komisches Gefühl, welches sie in diesem Augenblick ergriff. Sie wusste nicht genau, ob sie bleiben oder weglaufen sollte. Würde sie weglaufen, wäre er sicherlich verletzt und würde sie bleiben, dann ... . Sie wusste es einfach nicht und blieb wie angewurzelt stehen.

Helene erkannte die Zerrissenheit in den Augen ihrer Tochter und reagierte sofort.

„Wartet mal bitte einen Moment", bat sie die anderen, um zu Halie zu gehen und sie in den Arm zu nehmen. Leise sagte sie: „Möchtest du, dass wir beide einen Augenblick herausgehen?"

Wortlos nickte das Mädchen und ging gemeinsam mit seiner Mutter in den Garten.

Es war ziemlich frisch hier draußen und die beiden Frauen froren schon etwas, aber das ignorierten sie. Helene hoffte innerlich nur, dass sie sich nichts wegholen würden und machte einen der Heizstrahler auf der Terrasse an, die schon für das spätere BBQ bereitstanden. Augenblicklich brachte er ihnen etwas Wärme entgegen. Gemeinsam setzten sie sich auf die Stühle, die ganz in seiner Nähe standen und schwiegen sich eine Weile an, hielten die ganze Zeit über aber ihre Hände miteinander verschlungen.

„Ich möchte dich zu nichts drängen, mein Schatz. Wenn du glaubst, dass es für dich noch zu früh ist, dann kann ich das verstehen und Papa sicherlich auch. – Er war selber ziemlich überrumpelt, als Opa ihn mit hier heruntergenommen hatte. Er dachte wohl, er muss wieder da oben allein bleiben."

„Ach Mama. Keine Ahnung was das gerade war. Ich hab mir die ganze Zeit über, immer gewünscht, dass er endlich aufwacht. Schon allein für dich. Oder glaubst du, ich hab dich nicht immer wieder mal weinen gehört?"

„Du hast mich gehört?" Helene war verunsichert. Sie hatte gedacht, dass es nie jemand mitbekommen hatte. Wollte sie doch gerade für Halie immer die starke Mutter sein.

„Das wollte ich nicht", sagte sie leise.

„Ach mach dir darüber mal keine Gedanken", sagte das Mädchen selbstbewusst. „Es hätte mich eher gewundert, wenn es eiskalt an dir vorbeigegangen wäre. Mama, wir sind eben alle nur Menschen und du bist ein ganz wunderbarer Mensch. Du hast mir gezeigt, dass wir uns gegenseitig respektieren müssen und das es einfach Situationen gibt, mit denen man unmöglich allein klarkommen kann. – Ich werde jetzt mit dir zurückgehen und Papa endlich umarmen, so wie ich es immer schon mal machen wollte. Komm!"

Mit ihrer Mutter an der Hand, betrat Halie erneut das Wohnzimmer und ging schnurstracks auf ihren Vater zu, der mit großen Augen abwartete, was nun kommen würde.

Bei ihm angekommen, legte sie ihm ihre Arme um den Hals und flüsterte, so das wirklich nur er es hören konnte: „Ich hab so wahnsinnig lange auf dich gewartet. Bitte geh nie wieder fort."

Diese Worte rührten Florian so sehr, dass er es nicht verhindern konnte, dass sich wieder kleine Tränen in seinen Augen bildeten. Genauso leise antwortete er ihr, seine Hände wiederum um ihre Taille liegend: „Ver-spro-chen."

Langsam löste sie sich wieder von ihm, fasste die Griffe am oberen Ende des Stuhls und schob ihn zum Sofa, auf welches sie sich setzte.

„Ich glaube Papa, es wird Zeit sich mal kennenzulernen. Die anderen können ja ihr Ding machen. Ich möchte jetzt einfach alles von dir wissen, was dir so einfällt."

Erstaunt sah Florian seine Tochter an.

„Hat – Mama – dir – denn – gar – nichts – von – mir – erzählt?"

„Doch, hat sie. Aber wer sagt mir, dass sie wirklich alles von dir weiß?" Sie grinste ihn spitzbübisch an und wartete darauf, dass er anfangen würde zu erzählen.

„Hast du das gerade gesehen?", kam es aufgeregt von Helga.

„Nein. Was denn?", fragte Helene irritiert.

„Halie. Sie hatte eben genauso geschaut, wie es Florian immer tut, wenn er meint, mal wieder besonders schlau gewesen zu sein."

„Achso. Ja, den Blick kenn ich. Der hatte mich auch immer an ihn erinnert", antwortete die Blondine ihrer Schwiegermutter.

„Na das kann ja heiter werden", lachte die Ältere.

„Weißt du was? Ich werde mal sehen, ob ich Rosa ein wenig zur Hand gehen kann. Die Arme, muss doch nun wirklich nicht alles allein machen", sagte Helga und ging.

„Da wünsch ich ihr schon mal ganz viel Spaß dabei. Rosa lässt sich nach wie vor ungern ins Handwerk fuschen. Mich delegiert sie auch immer nach draußen, wenn ich's mir wage, mal die Spülmaschine auszuräumen."

„Ach lass sie. Du kennst doch Helga. Untätigkeit ist Gift für sie." Bestätigend nickte Helene nur und ging ihrer Schwiegermutter hinterher, was Franz nun wie einen zurückgelassenen, dummen Schuljungen aussehen ließ.

Er zuckte nur mit den Schultern und setzte sich etwas abseits, aber dennoch in die Nähe von Vater und Tochter und lauschte deren Gespräch ein wenig, was ihn immer wieder schmunzeln ließ. Es rief doch sehr viele verschiedene Erinnerungen in ihm wach.

Erinnerungen, an die er lange schon nicht mehr gedacht hatte.

Erinnerungen, die Florian gesammelt hatte, als er ein kleiner Junge war und seinem Vater zwar nichts recht machen konnte, seine Mutter aber alles immer umso mehr honorierte, was ihr Sohn tat und konnte. Erst jetzt fiel dem in die Jahre gekommen Mann so richtig auf, was Helga alles richtig bog, um ihn als Vater nicht ganz blöd dastehen zu lassen. Wie oft hatte sie Ausreden gefunden, wenn ihm seine Arbeit wieder einmal wichtiger war als eine Aufführung seines Buben. Sogar den Weltmeister aller Harmonika Spieler, hatte sie als Trainer für ihn aufgetan. Franz ging sich durch die Haare. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Es wunderte ihn, dass Florian ihn überhaupt in seiner Nähe duldete. Wie konnte er das alles nur wieder gut machen? Die Liebe, die Florian von seinem Vater verwehrt blieb, bekam Halie dafür doppelt und dreifach von ihrem Großvater zurück. Der Grauhaarige verwöhnte seine Enkeltochter nach allen Maßen. Bisher war sich Franz immer sehr sicher, dass dies nichts mit Florian zu tun hatte. Wobei er sich jetzt in diesem Augenblick aber nicht mehr ganz so sicher war. Vielleicht machte ja sein Unterbewusstsein Dinge, von denen er nichts mitbekam? Ab sofort, so nahm er sich vor, würde er Florian nie wieder im Stich lassen. Wenn Helene irgendetwas nicht erledigen konnte, was ihr Mann brauchte, dann würde er als sein Vater für sie einspringen. Nie mehr sollte sein Sohn sich von ihm benachteiligt fühlen. Niemals wieder.

Verlorene ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt