Teil 46

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Das Florian nun nicht mehr ganzheitlich im Bett war, nutzte Miriam direkt dazu, das Bettzeug einmal komplett zu wechseln und weil sie schon einmal dabei war, bezog sie das Bett seiner Frau gleich mit neu. Das Paar bekam davon aber eher weniger mit, denn sie waren mit sich selbst beschäftigt. Helene hatte aus der Küche ein paar Erdbeeren, eine Banane und eine gekochte Kartoffel, welche für den Salat bestimmt war, geholt. Diese wollte sie ihrem Göttergatten als Testobjekte reichen. Sie musste einfach wissen, mit welcher Konsistenz der Lebensmittel, Florian am besten klarkam und freute sich, als sie erkannte, dass er nach intensivem Kauen, alles problemlos schlucken konnte. Für sie war es nach wie vor ein Wunder, ihren Mann schon so fidel vor sich sitzen zu sehen. Ja, sie musste schon zugeben, von seiner früheren Figur war eigentlich gar nichts mehr vorhanden. Sämtliche Muskeln waren verschwunden, sein Gesicht eingefallen und die Hände wirkten überdimensional groß im Vergleich zum Rest seiner Erscheinung. Natürlich ließ sie sich ihre Beobachtungen nicht anmerken, denn nichts wäre schlimmer gewesen, als wenn Florian sich jetzt auch noch minderwertig fühlen würde. Eigentlich war es ihr auch ganz egal wie er gerade aussah. Er war hier und alberte mit ihr rum. Fütterte sie und ließ sich füttern. Die beiden hatten einen Heidenspaß und lachten unentwegt, als es plötzlich unten klingelte.

Natürlich wusste die Sängerin, dass Rosa die Tür öffnen würde, dennoch waren die beiden urplötzlich in die Realität zurückgeworfen worden und sahen sich nun überrascht an.

War es denn schon wieder so spät?

„Ich werde mal nach unten gehen, Flo. Ich bin gleich wieder bei dir. Lauf nicht weg, ja?" Sie küsste ihn noch schnell auf die Lippen und verließ im Eiltempo das Schlafzimmer.

„Ja – wie – soll – ich – denn?", murmelte der Entertainer leise vor sich hin, was sie aber gar nicht mehr hörte. Dass seine Frau ihn schon wieder allein ließ, war nicht gerade das, was er sich in diesem Augenblick wünschte.

Helene war gerade auf der untersten Stufe angekommen, als Rosa dabei war, die Haustür zu öffnen, um ihre Schwiegereltern ins Haus zu lassen.

„Hallo Helga, hallo Franz. Schön, dass ihr da seid." Herzlich begrüßten sich die Drei. Helga war total hibbelig und konnte kaum noch an sich halten, als sie fragte: „Können wir zum ihm?"

Lächelnd nickte die Blondine. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es in ihrer Schwiegermutter aussah. „Aber natürlich. Wollt ihr denn nicht erst einmal ablegen?" und deutete auf die im Flur hängende Garderobe.

„Oh ja, natürlich. Entschuldige bitte meine Ungeduld. Aber du weißt es sicher am besten zu verstehen, was in uns vorgeht. Du wartest Jahrelang auf ein Lebenszeichen und dann ist es urplötzlich, ganz unerwartet da." Wieder konnte die Jüngere nur lächelnd nicken. Niemand konnte Helga so gut verstehen, wie sie. Doch bevor sie die beiden nach oben begleitete, hatte sie noch eine Frage. „Franz, wäre es vielleicht möglich, dass du Flo nachher die Treppe hinunterträgst? Miriam wird dir sicher gerne zeigen, wie du greifen musst, um ihn nicht zu verletzen. Aber mir ist es schon wichtig, dass er später auf der Terrasse dabei ist." Der Grauhaarige nickte zustimmend und legte seiner Schwiegertochter wohlwollend seine Hand auf die Schulter, bevor er antwortete: „Aber natürlich mach ich das. Gerne sogar. Theoretisch könnten wir das doch gleich machen. Dann bekommt er mal was anderes zu sehen als nur euer Schlafzimmer."

„Eigentlich hast du recht", stimmte Helene ihm zu und ging, nachdem das Paar sich seiner Jacken und Schuhe entledigt hatte, voraus die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Vor der Schlafzimmertür angekommen, legte sie ihren Zeigefinger über ihre Lippen, um ihren Gästen zu bedeuten, leise zu sein.

Ganz leise öffnete sie die Tür und trat ein.

„Flo?", fragte sie.

Als dieser sein Gesicht erwartend zu ihr wandte, fragte sie: „Bereit für Besuch?"

Nervös blickte der Entertainer an sich herab und zupfte an seiner Hose, als würde dies etwas an deren Sitz ändern können. „Bereit", antwortete er einen Moment später und bereitete sich innerlich auf überraschte und irritierte Blicke vor. Helene öffnete die Schlafzimmertür ein wenig weiter, so dass ihre Schwiegereltern eintreten konnten. Miriam zog sich erneut in die äußerste Ecke zurück, um dem Familienidyll Raum zu lassen. Weinend vor Glück lief Helga auf ihren jüngsten Sohn zu. Ewigkeiten hatte sie Helene innerlich für zu optimistisch oder gar naiv gehalten, daran zu glauben, er würde jemals wieder, an ihrem Leben teilhaben können. Und nun saß er da, vor ihr und grinste sie mit seinem Lausbubengesicht an. Ihr Kleiner, ihr Jüngster, ihr Flori. Innerlich maßregelte sie sich, jemals daran gezweifelt zu haben, ihn irgendwann mal wieder in den Armen halten und liebkosen zu können, wie es eine Mutter eben mit ihrem Kind nur allzu gerne tat. Und dabei war es ihr vollkommen egal, wie alte er inzwischen war. Dieses blöde Koma hatte ihn ihr im Alter von gerade einmal 26 Jahren entrissen und so lange für sich behalten. Heute mit 43 war er für sie nicht einen Tag gealtert, auch wenn seine Gesichtszüge ihr etwas ganz anderes sagten. Sie kniete vor ihm und hielt sein Gesicht in ihren Händen, während ganze Sturzbäche an Tränen über ihre Wangen liefen.

„Mama", flüsterte er.

„Mein Junge", antwortete sie ihm nur und schloss ihn in ihre Arme. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Nie wieder.

„Wie geht es dir?", wollte Franz nun wissen.

„Ganz – gut, denk – ich", bekam dieser nur zur Antwort.

Die beiden Männer waren noch nie so innig zueinander gewesen, wie es Mutter und Sohn immer schon waren. Helga war es auch gewesen, die Florians Drängen nach einer eigenen Harmonika irgendwann nachgegeben hatte. Franz hielt das Musikinstrument immer für viel zu teuer und befürchtete, sein Jüngster würde es nach einer kurzen Phase der Euphorie in die Ecke stellen und nie wieder angucken. Dass er damit aber irgendwann eine einschneidende Karriere hinlegen würde, das war zu diesem Zeitpunkt noch reine Utopie gewesen.

Verlorene ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt