Teil 45

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Als sie das Schlafzimmer der Eheleute betrat, schlief der Entertainer noch tief und fest. Nach den Übungen, welche Stefanie mit ihm gemacht hatte, war er erschöpft eingeschlafen. Allerdings war es Zeit für eine weitere Mahlzeit. Denn seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr bekommen. Also nahm sie, aus dem extra für ihn installierten Kühlschrank, eine Spritze gefüllt mit, auf seine Bedürfnisse abgestimmter Flüssignahrung und verabreichte ihm diese über seine Magensonde. Der Moderator merkte davon aber nichts, weil diese direkt über den Bauch, mit dem Magen verbunden war.

Die Pflegeschwester notierte gerade die vom Überwachungsmonitor abgelesenen Werte, als Florian langsam wach wurde. Verschlafen versuchte er sich zu orientieren.

„He-le-ne?", fragte er, als er hörte, dass er nicht allein im Raum war.

„Nein, Herr Silbereisen. Ich bin es nur, Schwester Miriam."

„Ich – ha-be – Durst", nuschelte er mehr zu sich, was aber für die Pflegekraft trotzdem gut verständlich war.

„Natürlich, ich mache ihnen gleich ihre Tasse fertig." Ohne länger auf ihn einzugehen, bereitete sie ihm das Gewünschte zu.

„Wollen sie im Bett trinken, oder doch lieber im Stuhl?"

„Is – mir – e-gal", gab er grummelnd von sich. Es machte ihn schier wahnsinnig, nichts tun zu können. Früher war es das schönste der Welt für ihn, mal einen ganzen Tag nur so im Bett zu liegen, aber heute, jetzt und hier, war es das Einzige, das er konnte und das störte ihn gewaltig.

Miriam schmunzelte nur. Irgendwie konnte sie ihn ja verstehen. Alle anderen konnten sich frei im ganzen Haus bewegen und nur er, lag den ganzen Tag in diesem Zimmer meistens allein, wenn man von ihr selbst mal absah.

„Na kommen sie, wir ziehen ihnen jetzt eine Jogginghose und ein Shirt an und dann helfe ich ihnen in den Stuhl. Das ist doch viel angenehmer, beim Trinken." Sie ging an den Kleiderschrank, welcher direkt gegenüber vom Bett stand und suchte nach einer flexibel schließenden Hose, wovon sie gleich zwei fand.

„Also gut. Die Graue oder die Schwarze, welche möchten sie?"

„Is – mir – e-gal", weiter kam wieder nichts von ihm. Es passte ihm gar nicht, dass eine fremde Frau dabei war, ihn anzuziehen. Er hätte es sich von Helene gefallen lassen, aber sie war nicht hier - nicht jetzt. Sie war gegangen, als er schlief und bisher noch nicht wieder zurück. Wahrscheinlich bereitete sie das Eintreffen seiner Eltern vor, was ihm irgendwie auch nicht so recht gefiel.

„Herr Silbereisen, wollen sie etwa im Schlafanzug bleiben, wenn der Besuch hier eintrifft?"

„Es – sind – doch – nur – mei-ne – El-tern. Die – ken-nen – mich – doch – auch – so." Seine Stimmung war mittlerweile auf dem Tiefpunkt angekommen.

„Ich kann ja verstehen, dass es ihnen nicht gefällt, sich nicht allein ankleiden zu können. Aber noch brauchen sie Unterstützung dabei und ich helfe ihnen wirklich gerne. Das könne sie mir ruhig glauben." Freundlich sah sie ihm in die Augen. „Na kommen sie, ihre Frau wird sich sicher freuen, wenn sie sie nachher außerhalb des Bettes sieht. Sie machen schon unglaubliche Fortschritte. Sie können wirklich sehr stolz auf sich sein. Es ist unglaublich selten, dass Patienten, die nach so langer Zeit im Koma aufwachen und so schnell wieder so fit sind, wie sie jetzt." Während sie sprach, leerte sie den Urinbeutel und zog ihm frische Unterwäsche, inklusive Socken an. „Und?" Sie hielt ihm wieder die Hosen hoch, sodass er sie gut sehen konnte.

„Welche soll's nun sein?"

Er sah zweimal zwischen den Hosen hin und her und entschied sich dann für die Schwarze.

„Ha-ben – sie – das – pas-sen-de – Shirt – da-zu?" Herausfordernd blickte er ihr in die Augen. Natürlich war ihm bewusst, dass das passende Oberteil dazu überhaupt nicht passend aussah. Es war grau, hatte eine Kapuze und eine große Applikation in Form eines Wolfes auf der Front.

Ohne das die beiden es mitbekamen, stand jemand schon eine ganze Weile dort im Türrahmen und beobachtete die kleine Szene im Schlafzimmer, mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Bei der Frage, ob Miriam denn auch den passenden Sweater zur Jogginghose hatte, wusste sie, dass die Pflegekraft diesen Test nicht bestehen konnte und lief schnell hinüber in den kleinen Fitnessraum, welchen sich das Paar kurz nach ihrem Einzug, einrichten ließ. Dort hing seit Jahren schon, immer mal wieder gewaschen und dann wieder hin gehangen, das besagte Oberteil.

„Meinst du den hier mein Schatz?", fragte Helene mit dem dazugehörigen Kapuzenshirt in der Hand.

„Was ist los, Flo?" Sie kam zu ihm und nahm beim Vorbeigehen der Schwester die Hose aus der Hand. Um den beiden genügend Raum zu lassen, zog sich Miriam direkt etwas zurück. Dennoch blieb sie in der Nähe, um einspringen zu können, falls es notwendig sein würde.

„Na komm, wir schaffen das beide gemeinsam. Kannst du das Bein anheben?" Helene deutete auf das Bein, welches von ihr aus Links gelegen war. Langsam hob er es an, sodass sie ihm das Hosenbein über den Fuß streifen konnte. Kaum war das erledigt, senkte er es wieder und hob das Rechte auf die gleiche Weise. Durch die fehlende Muskulatur zitterte er dabei, was die Blondine absichtlich ignorierte, um ihm eine unangenehme Situation zu ersparen. Als beide Hosenbeine über die Füße gezogen waren, hob er sein Becken und sah beschämt von ihr weg, während sie ihm die Hosen hinauf, über den Po zog und im Anschluss leicht zuband. „So, fertig. Das war doch gar nicht so schwer. Oder?" Helene wartete darauf, dass er sein Gesicht wieder zu ihr wandte, aber vergebens. Er schämte sich dafür, dass er nicht imstande war, sich selbstständig anzuziehen.

Miriam stand abseits und wartete auf den Zeitpunkt, an dem sie einschreiten würde, um den Entertainer in den Stuhl zu heben. Die Sängerin griff nach dem Shirt, um ihm auch dort hineinzuhelfen. Sie krempelte es zusammen und zog es ihm über den Kopf.

„Bi-tte! Den – Rest – kann – ich – allei-ne, denk – ich." Was er ihr zwar langsam, aber eindrucksvoll bewies. Helene nutzte die Chance und zog ihm gleichzeitig ein paar schnürfreie Sneaker über.

„Super, dann ist nun also mein Part gefragt", mischte Miriam sich plötzlich in die skurrile Situation ein.

„Oder hatten sie etwa vor, ihm selbst in den Stuhl zu helfen, Frau Silbereisen?" Irritiert und irgendwie ertappt, schreckte die Blondine hoch.

„Nein, natürlich nicht", antwortete sie schnell und trat beiseite. Miriam schob den Therapiestuhl ans Bett, half Florian hinein und schnallte ihn sicherheitshalber an. Außer dem Oberkörper konnte er alles bewegen, was ihm ermöglichte, die Schnabeltasse vom Sideboard zu nehmen und selbstständig zu trinken. Was anfangs relativ schwierig war, gelang ihm nun umso besser. Er trank die komplette Tasse leer und blickte dann stolz zu seiner Frau.

„Fer-tig – für – die – Party", sagte er nun, mit deutlich besserer Laune.

Verlorene ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt