Teil 54

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Vorsichtig drehte sie sich wieder um und konzentrierte sich starr auf sein Gesicht.

„Ähm ... Ich wollte eigentlich nur mal nach dir sehen. Weißt du was? Ich komm dann lieber später noch mal wieder", sagte sie und ging schneller wieder raus, als Florian reagieren konnte.

Helene wollte gerade hinterherkommen, als sie ihre Tochter rückwärts an der Wand, neben der Schlafzimmertür, gelehnt antraf.

„Hey, was ist denn los? Warum stehst du hier draußen? Ich dachte, du wolltest zu Papa."

„Da war ich ja auch."

„Und? Warum stehst du dann hier draußen, als hättest du 'nen Geist gesehen?"

„Weil ich... Ach egal." Ohne weitere Worte wandte Halie sich ab und lief ins untere Geschoss.

Perplex sah ihre Mutter ihr hinterher und entschied kurzerhand bei Florian nachzusehen und ging zu ihm ins Schlafzimmer.

„Flo, was ist denn mit Halie los? Die sah eben aus wie der Tod auf Latschen."

Schuldbewusst sah er seine Frau an.

„Ich – fürchte, sie – wird – leicht – ge-schockt – sein. Als – sie – hier – rein-kam, waren – wir – gerade – dabei – mich – zu – waschen – und – naja, ich – war – halt – nicht – be-kleidet."

Erleichtert ließ die Sängerin sich auf ihre Betthälfte sinken.

„Na das erklärt einiges. Sie ist es einfach nicht gewohnt. Bisher gab es feste Zeiten, in denen sie hier nichts zu suchen hatte. Ich habe nicht nachgedacht. Ging davon aus, du wärst noch allein und hab sie, ohne nachzudenken zu dir gehen lassen. Ich konnte ja nicht ahnen..."

„Entschuldigen sie bitte, dass ich störe. Herr Silbereisen, wollen wir dann langsam mal?", drängte sich Miriam in das Gespräch und deutete auf den Therapiestuhl. Dieser nickte nur und hob einverstanden die Arme so, dass die Pflegerin ihn fassen konnte, um ihn in das Mobiliar zu helfen. Die Physiotherapie war für den Tag schon abgesagt, denn mit einem schlafenden Patienten, konnte Stefanie nun nicht mehr arbeiten. Also war der Plan, ihn wieder am Familienleben teilnehmen zu lassen. Für die Fahrt mit dem Treppenlift, musste er noch angeschnallt werden, aber danach wollten sie die Gurte etwas lockern, damit er sich selbst in Position halten musste und so automatisch seine Muskulatur beanspruchte. Alles natürlich nicht ohne Miriams Aufsicht. Sie kannte die Risiken und wusste, wann sie eingreifen musste.

Geschniegelt und gestriegelt ging es dann los, zur ersten Fahrt mit dem Treppenungeheuer, wie Helene es mittlerweile nannte, da es schon einen relativ großen Teil der Treppenbreite beanspruchte. Wenn die Plattform ausgeklappt war, konnte sich niemand weiter auf der Steige aufhalten. So kam es dann, dass sie zu dritt mit dem Lift hinunterfuhren.

Halie saß ganz allein im Garten auf der Terrasse und telefonierte mit Ciara.

Mit ihr konnte sie über alles reden. Auch darüber, was sie so wahnsinnig irritierte. Natürlich wusste sie, dass sie sich nicht schämen musste, aber noch nie hatte sie einen nackten Mann live und in Farbe gesehen. Dazu noch einen, der so wahnsinnig dünn war. Es war noch nicht einmal die entblößte Körpermitte, die sie so erschrecken ließ. Sie kannte all die alten Fotos in Alben und Kisten, die ihre Mutter über die Jahre sicher aufbewahrt hatte. Dort hatte sie auch des Öfteren Bilder ihres Vaters nur in Badehose oder Jogger gesehen. Mit dem Mann von heute, war dieser absolut nicht mehr zu vergleichen. Die komplette Arm- und Beinmuskulatur fehlte, von der Bauch- und Brustmuskulatur ganz zu schweigen. Er erinnerte sie sehr stark an die Bilder der Kriegsgefangenen, welche sie im Geschichtsunterricht als Anschauungsmaterial rumgereicht bekommen hatten.

Da an diesem Montag nun die Herbstferien angefangen hatten, verabredete sie sich noch schnell mit ihrer Freundin und verließ mit kurzer Info, wo sie hinwollte, ihr Elternhaus, ohne vorher noch was gegessen zu haben. Rosa hatte auch keine Chance, sie noch aufzuhalten, um ihr wenigstens was Kleines mitzugeben. Da sie aber angab, zu Ciara nach Hause zu gehen, war die Sorge um ihre Versorgung, schnell wieder verflogen.

Florian hielt sich wacker. Am Essen konnte er sich ohne Probleme beteiligen, was den ersten Termin zur Sonden-Entwöhnung, immer realer werden ließ. Er freute sich schon darauf, weil das bedeutete, er käme mal wieder raus, obwohl ihn das ganze schon etwas Angst machte. Er hatte immerhin keine Ahnung, was da auf ihn zukommen würde.

Das nächste Ziel war danach allerdings, wieder lernen auf seinen eigenen Beinen zu stehen, damit er wenigstens wieder zur Toilette gehen konnte, egal ob mit oder ohne Hilfe.

Dafür durfte ihm so etwas, wie die letzten beiden Tage, allerdings nicht wieder passieren. Je häufiger Stefanie abgesagt werden musste, umso weiter, zog sich das Thema getragen und geschoben werden, in die Länge.

Es war bereits 20 Uhr durch, als Helene einen Anruf ihrer Tochter erhielt, mit der Bitte, bei ihrer Freundin übernachten zu dürfen. Überrascht war sie darüber nicht und so erlaubte sie es. Wechselsachen würde sie von Ciara bekommen, versicherte Halie ihr.

Gegen 22 Uhr zogen sich dann auch alle in ihre Zimmer zurück, wobei der Schichtwechsel der Pflegekräfte, auch reibungslos vonstattenging.

Die Nachschwester war allerdings neu und mit den Gepflogenheiten im Hause Silbereisen noch nicht so vertraut. So kam es, dass sie in jener Nacht beinahe stündlich ins Schlafzimmer kam, um Florians Werte zu kontrollieren und Helene dadurch immer wieder weckte, bis diese aufstand und ihr die Funktion der Lichtorgel in ihrem Zimmer erklärte. Diese sogenannte Lichtorgel, war wie der Pieper, mit dem Überwachungsmonitor im Schlafzimmer verbunden und zeigte an, wenn für Florian überlebensnotwendige Funktionen, kritische Maße annahmen. Ansonsten war sie im Schlafzimmer nicht willkommen.

Verlorene ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt