Teil 60

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Florian pellte sich aus den Laken und machte sich dann auf den Weg ins untere Geschoss.

In der Küche war gerade der Kaffee durchgelaufen, als es auch schon am Tor klingelte.

„Boa, was für ein mieses Wetter. Typisch April sag ich dir. Heute Morgen war es noch schön warm, aber geh jetzt mal raus." Erika war gerade dabei, ihre Schuhe auszuziehen, und schimpfte vor sich hin. „Gut siehst du aus. Helene noch da?"

„Danke. Ja. Wo sollte sie sonst sein?" Der Entertainer rollte mit den Augen. Manchmal waren ihm die Gedankengänge seiner Schwägerin echt suspekt. „Sie ist noch im Bad und macht sich fertig."

„Jetzt erst? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?"

„Natürlich weiß ich das. Wie du weißt, besitzen auch wir Uhren."

Florian konnte nicht anders, er musste einfach kontern. Innerlich dachte er sich, dass Erika zwar alles essen, aber nicht alles wissen musste.

„Ich hab euch doch nicht etwa gestört? Immerhin weiß ich doch, dass Halie zur Klassenfahrt ist. Da habt ihr ja fast Sturmfreie hier."

„Wäre dem so gewesen, Erika, hätte Helene gar nicht erst abgenommen. Ich kann dich also beruhigen. Du hast nicht gestört."

„Schade. Täte euch wirklich mal gut, die Zeit allein ein wenig auszunutzen", sagte sie und hob ihre Tasse an die Lippen, Florians Gesicht dabei aber nicht aus den Augen lassend.

Sie konnte es einfach nicht verstehen, worauf die beiden noch warteten. Ihr Schwager war wieder komplett wie neu und auch belastbar. Aus Telefonaten mit ihrer Schwester wusste sie, dass er auch wieder trainierte. Das diese aber nicht über alles mit ihr sprach, wusste sie nicht. Früher konnte sie Helene die ein oder andere Einzelheit aus der Nase ziehen, aber heute blieben ihre Gespräche sachlich orientiert.

„Ich hab übrigens mit Helene gesprochen. Ich weiß Bescheid, über den Streit mit euren Eltern."

Tief atmete die Juristin ein.

„Und? Was sagst du dazu?"

„Ich gebe Helene uneingeschränkt recht."

„Wie? Womit?"

„Damit, dass sie Halie nicht auf dieses Internat geschickt hat. Diese Förderungen, von denen eure Eltern gesprochen haben, die kann man auch extern machen. Da muss sie nicht von zu Hause und ihren Freunden weg."

„Aber Helene macht doch gar nichts in diese Richtung. Oder weißt du etwas von Privatstunden, die das Kind irgendwoher erhält?"

„Lass das mal unsere Sorge sein. Halie bekommt Unterricht. Vielleicht nicht so, wie ihr es euch vorstellt, aber sie bekommt ihn. Und das auch schon ein paar Jahre."

Irritiert sah Erika ihn an.

„Das wusste ich nicht und Mama und Papa auch nicht. Mensch, warum hat sie denn nichts gesagt? Dieser blöde Streit hätte doch vermieden werden können." Besorgt legte sie ihr Gesicht in ihre Hände und strich darüber.

„Wer nicht fragt und nur verurteilt, der bekommt auch keine Antworten. Warum bist du eigentlich hier?", wollte der Entertainer wissen.

„Das erklär ich euch, wenn Helene hier ist. Sonst muss ich es doppelt erzählen."

„Na dann leg mal los." Erschrocken drehte Erika sich um. Ohne dass beide es merkten, war die Blondine die Treppe heruntergekommen. „Du wolltest uns doch erzählen, warum du hier bist. Hier bin ich. Also?"

Das ihre Schwester angesäuert war, konnte die Brünette ihr nicht verdenken. Immerhin hatte sie, sie nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst, während der verbalen Auseinandersetzungen. Erika war sich so sicher gewesen, dass ihre Eltern recht gehabt hatten, mit dem, was sie ihrer Tochter alles an den Kopf geworfen hatten. Und Helene? Die hatte nur dagesessen und gar nichts gesagt, es einfach über sich ergehen lassen. Bis ihr der Kragen platzte und sie alle aus dem Haus warf. Am nächsten Tag waren ihre Eltern abgereist und seitdem herrschte absolute Funkstille zwischen ihnen. Ab und an telefonierten die Schwestern miteinander, aber wie früher war es keineswegs. Das besagte Thema ließen sie stets außen vor. Sobald die Juristin auch nur mit einem Wort die Reise der Eltern ansprach, wurde sie von ihrer kleinen Schwester freundlich, aber bestimmt abgewürgt.

„Helene hör mal. Ich weiß du willst nicht über Mama und Papa reden, aber die beiden kommen in zwei Wochen wieder nach Hause und da dachte ich mir..." Der scharfe Blick, den ihr ihre Schwester zuwarf, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren, dabei wollte sie doch nur eine Möglichkeit der Versöhnung finden. „...naja, ich dachte mir halt ... wir könnten doch eine Willkommensparty veranstalten."

Augenblicklich verfiel Helene in eine Art Schockstarre. Sie konnte nicht glauben, was Erika da gerade vorgeschlagen hatte.

„Du meinst das ernst, oder?", fragte Helene unsicher.

„Natürlich mein ich das ernst. Was denkst du denn?"

„Leidest du vielleicht an Alzheimer, oder so? Erika, hast du schon vergessen, was sie mir an den Kopf geknallt haben? Hast du das? Warte, ich kann dir helfen. Sie meinten nämlich, dass ich Halie im Weg stehen würde, sie nicht verantwortungsbewusst fördern würde. Immerhin hat sie doch so viele Talente." Die Sängerin schluckte einmal kräftig und wollte gerade weitersprechen, als Erika ihr zuvorkam.

„Du hattest aber auch nichts gesagt. Hast sie einfach reden lassen. Warum? Wenn sie dir doch Unrecht getan haben. Warum hast du dich nicht verteidigt?"

„Das kann ich dir genau sagen, liebes Schwesterherz. Weil alles, was ich dann gesagt hätte, absolut nicht gut gewesen wäre. Also habe ich mir lieber auf die Zunge gebissen und es ausgesessen, bis es mir gereicht hatte. Den Rest kennst du ja."

„Helene! Flo sagte mir gerade, dass du Halie schon seit Jahren unterstützt und fördern lässt. Nicht einmal ich habe davon etwas gewusst."

Die Blondine nickte nur, bevor sie ihrer großen Schwester darauf eine Antwort gab.

„Ja, das ist wahr. Ich unterstütze meine Tochter schon seit Jahren. Schon im Kindergartenalter bekam sie Ballettunterricht. Seit etwas mehr als drei Jahren nehme ich sie mit zu meinem Vocalcoach und seit zwei Jahren, sitzt sie jede Woche mit Christoph hier im Musikzimmer am Flügel. Sie komponiert selbst und er schaut es sich an und gibt ihr Verbesserungstipps. Sag mir bitte, was ich vergessen habe! Gibt es noch irgendetwas, was ich deiner Meinung nach, hätte besser machen können? Vergiss dabei aber bitte nicht, dass wir hier von einem Kind reden! Sie braucht auch Freiraum, um sich entfalten zu können. Sie hat auch noch andere Interessen als nur die Musik. Sie hat Freunde, richtig gute Freunde. Die beiden fragen nicht, wer ihre Eltern sind. Die beiden sind für sie da, wenn sie Kummer und Sorgen hat. Sie spricht darüber lieber mit ihren Freunden, als mit mir, weil sie Angst hat mich zu belasten. Erika! Sag mir jetzt sofort, was deiner Meinung nach noch fehlt!" Tränen der Wut liefen der Sängerin über ihre Wangen, der Wut und Enttäuschung. Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Jeder weitere Ton, wäre ein Schrei gewesen. Ein Schrei nach Liebe und Zuneigung von ihrer Familien, ihren Eltern. Von denen sie sich aber so verraten fühlte. Ihre Schwester, die sie nicht ein bisschen verteidigt hatte, nur dabeisaß und Maulaffenpfeil hielt, stand nun vor ihr und wollte eine Willkommensparty veranstalten. Das war zu viel für sie. Das konnte sie nicht, nicht jetzt, nicht so. 

Verlorene ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt