Teil 62

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„Ich soll so tun als ob?"

„Hmh ... Für mich?"

„Och Eri! Gib mir wenigstens ein bisschen Zeit, mich der Situation anzupassen."

„Wozu brauchst du Zeit, kleine Schwester? Du bist doch eine fantastische Schauspielerin." Verschmitzt schaute sie die Sängerin an.

„Mag sein, dass du tatsächlich dieser Meinung bist. Aber selbst DIE haben ein wenig Zeit, sich in ihre Rolle zu denken."

Mit offenem Mund verfolgte Florian die Diskussion der beiden, bevor er sich dann doch entschied, sich einzumischen.

„Habt ihrs dann auch mal wieder? Was soll das Vortäuschen falscher Emotionen bringen? Ihr belügt euch doch nur gegenseitig damit. Ihr habt sie doch nicht mehr alle!!" Kopfschüttelnd wandte er sich von ihnen ab und ging zurück ins Haus, um sich einen Kaffee zu machen. Dieses Verhalten der beiden Schwestern war ihm unverständlich. Er verstand nicht, was es bringen sollte, sich anzulügen. Plötzlich merkte er, wie zwei relativ kleine Hände, seinen Rücken bis hoch zu seinen Schultern fuhren und spürte kleine Küsse auf seinem Nacken.

„Verzeih mir. Du hast ja recht. Es ist nicht richtig, wenn ich meine Gefühle verleugne. Aber was soll ich machen?"

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen drehte er sich zu ihr um.

„Helene. Du bist der gutmütigste Mensch dieser Welt. Um dich aus dem Gleichgewicht zu bringen, da muss einiges geschehen und ich bin mir nicht sicher, was es mit dir macht, wenn du jetzt anfängst die nächsten vierzehn Tage so zu tun, als sei allen wieder in Ordnung."

„Was soll ich dann deiner Meinung nach tun?"

„Sei ehrlich zu dir selbst!" Einsichtig nickte die Blondine. Sie wusste, dass ihr Mann recht hatte. Aber wusste sie nicht, ob sie ihren Groll bei der Planung des Willkommensessens beiseitelegen konnte. Sie verspürte keine Lust dazu, ihren Eltern irgendeinen Gefallen zu tun. Auch ein Jahr nach ihrer Auseinandersetzung war die Wut in ihrem Bauch nicht erloschen.

Erika, die die kleine Unterhaltung von der Terrassentür aus mitbekommen hatte, entschied nun, sich doch einzumischen.

„Was haltet ihr davon, wenn ich die Planung allein übernehme und auch das Kochen? Ihr müsst mir nur eure Küche zur Verfügung stellen. Ich bereite alles zu Hause vor und mach es hier nur noch warm."

Ratsuchend blickte Helene ihren Mann an, woraufhin dieser nur einmal zustimmend nickte und sagte: „Also gut. Du bereitest alles vor und wir lassen uns überraschen?"

„Ja. Ich denke, so wird es wohl das Beste sein."

So war es dann entschieden. Helene blieb außen vor und versprach bis zur Ankunft der Eltern an ihrer Wut zu arbeiten, sie irgendwie in konstruktive Kritik umzuwandeln, was ein vernünftiges Gespräch überhaupt erst möglich machen würde.

13 Tage später:

Erika war gerade dabei, den Teig für die Pelmeni vorzubereiten, als es an der Tür klingelte.

„Ich mach auf", rief Leonie und hoffte schneller an der Tür zu sein als ihr kleiner Bruder.

Jakob würde wieder ständig diesen Affentanz vor ihr aufführen, weil er sich freute, ihr zuvorgekommen zu sein.

Tatsächlich hatte dieser aber gar nichts von dem Läuten der Türglocke mitbekommen. Er saß in seinem Zimmer, mit Kopfhörern auf den Ohren und hörte sich das neue Album von Exo, einer koreanischen Pop-Band, an, welches ihm sein Vater am Vortag, von seiner Dienstreise mitgebracht hatte.

Eigentlich liebte die 19-jährige ihren Bruder sehr, aber manchmal konnte dieser auch ganz schön nerven.

Der Siebtklässler ärgerte seine große Schwester einfach zu gerne. Diese hatte im vergangenen Jahr erst, ihr Studium angefangen. Das Schicksal ihres Onkels ließ sie einfach nicht los, sodass sie sich irgendwann dazu entschied, Neurologin werden zu wollen.

Als sie die Tür öffnete, staunte sie nicht schlecht. Vor ihr stand eine völlig durchnässte Halie. Ohne groß zu fragen, drängte diese sich in Haus.

„Kann ich bis heute Abend bei euch bleiben? Zu Hause ist die Hölle los."

Leonie sah ihre Cousine total überrascht an. Sowas gab's noch nie, zumindest nicht, solange sie denken konnte – Disharmonie im Hause Silbereisen.

„Na klar, ich denke schon. Mama ist in der Küche. Sie kocht schon den ganzen Vormittag für morgen vor und wird sich freuen, dich zu sehen. Weil, sie wollte irgendwie wissen, ob dein Paps irgendwas noch nicht essen darf, kriegt aber bei euch niemanden ans Telefon."

„Ja, das kann sein. Papa hat das Festnetz rausgezogen, weil Mama jedes Mal, wenn es klingelte, von Neuem zu schimpfen anfängt. Du würdest sie nicht wiedererkennen, Leo. Ich habe meine Mutter noch nie so erlebt, wirklich." Die Ältere, der beiden, nickte verstehend und nahm Halie die Jacke ab.

„Geh mal derweil in die Küche, dort ist es richtig warm. Ich hole dir mal ein paar Wechselsachen, du bist ja nass bis auf die Haut." So ließ die Studentin ihre Cousine dann auch allein. Nachdem die 16-Jährige sich dann auch ihrer Schuhe entledigt hatte, lief sie durch den Flur in die Küche, um ihre Tante zu begrüßen.

„Hallo Tante Eri", flötete sie beinahe der Schwester ihrer Mutter entgegen.

„Hallo Mäuschen. Na, was treibt dich zu uns?", wollte diese nun von ihr wissen.

Ohne jeglichen Elan, ließ Halie sich auf einen der Küchenstühle sinken.

„Mama dreht gerade frei. Sie tigert ständig im Haus umher und schnauzt jeden an, der ihr über den Weg läuft. Nichts kann man ihr gerade recht machen. Nicht mal Papa, obwohl der gar nichts dafür kann."

„Aber sie wissen doch schon, wo du jetzt bist, oder?"

Erika konnte nicht anders. Sie machte sich Sorgen.

„Ja, Papa weiß Bescheid. Vor Mama geh ich heute lieber in Deckung. Hast du irgendeine Ahnung, was mit ihr los ist?"

Wie in Gedanken nickte Erika vor sich hin.

Helenes Verhalten kannte sie gut. Genauso verhielt sie sich immer, wenn sie kurz vor Prüfungen oder ähnlichen Ereignissen stand. Wenn sie sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte, solche Dinge schafften es immer wieder.

„Ja, das kenne ich."

„Echt? Ist das normal? Ich meine, meine Mutter ist normal die liebenswerteste Person ever. Aber jetzt gerade ist sie eher wie von einer Tarantel gestochen. ... Ohne scheiß Tante Eri, ich habe beinahe Angst vor ihr."

„Mach dir keine Sorgen Mäuschen, der Spuk ist spätestens morgen Abend, wenn Oma und Opa bei euch sind, wieder vorbei."

Sie wischte sich ihre Hände an einem Geschirrtuch ab und setzte sich nun zu ihrer Nichte, der Teig musste jetzt sowieso etwas ruhen.

„Weißt du ...", begann sie. „...deine Mama hatte schon immer eine wahnsinnige Prüfungsangst. Keine Frage, sie hatte jede einzelne bisher bestanden, aber vorher war sie immer wie eine Furie. Und der Besuch unserer Eltern kommt einer Prüfung in etwa gleich. Sie hat deswegen wohl eine ziemliche Unruhe in sich."

„Was war denn da eigentlich los? Warum ist Mama so sauer auf Oma und Opa."

Halie hatte von all dem überhaupt nichts mitbekommen.

„Stimmt, ich erinnere mich. Du warst gar nicht da. Du hattest, glaube ich, bei einer Freundin geschlafen. Kann das sein?"

„Ja, ich war bei Ciara. An dem Wochenende als die beiden geflogen sind, hatte sie Geburtstag und da haben Mats und ich bei ihr geschlafen. War 'ne schöne Party."

Erika wollte gerade ausholen und ausführlich über dieses Thema mit Halie sprechen, als Leonie mit den Wechselsachen zurückkam.

„Schau mal Lie, dass müsste dir passen. Das sind noch ältere Sachen von mir, für die anderen bist du einfach viel zu schlank."

„Aber natürlich, entschuldige bitte. Das fällt mir überhaupt erst jetzt so richtig auf. Du bist ja klitschnass. Geh dich erstmal duschen und umziehen. Ich wasche in der Zwischenzeit deine Sachen. Bis heute Abend sind die dann auch wieder trocken. Na los, hopp-hopp, ab ins Bad", trieb Erika ihr Nichte nun etwas an. Ohne lange zu maulen, schnappte die Schülerin sich die Sachen ihrer Cousine und verschwand im nahegelegenen Badezimmer. Keine zwei Minuten später hörte man auch schon das Wasser laufen.

Verlorene ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt