Thirty-Eight

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"Bitte Lilli, du musst was essen." Flehend sah Kai mich an, doch ich schüttelte den Kopf. "Ich hab keinen Hunger." "Das sagst du schon seit Tagen. Ich weiß, dass du um deinen Vater trauerst, aber deswegen zu hungern, wird dir nicht dabei helfen." Er sprach ganz sanft, als sei ich ein Vögelchen, das er nicht verschrecken wollte, aber davon entwickelte ich auch kein Hungergefühl. Kai seufzte. "Ich würde dir so gerne helfen, aber ich weiß nicht wie." Emotionslos sah ich den Dunkelhaarigen an. "Ich weiß es auch nicht. Aber fürs Erste würde es helfen, wenn ich meine Ruhe haben könnte." Kai nickte. "Natürlich. Wenn irgendwas ist, ich bin unten im Wohnzimmer." Mit diesen Worten verließ er das Musikzimmer, den Teller mit den Obststücken nahm er unberührt mit. Der Tod meines Vaters war vier Tage her, heute war Samstag und ich wusste immer noch nicht, was ich fühlte. War es Trauer, weil ich ihn vermisste? Oder Wut, weil er mich wieder verlassen hatte? Oder Verzweiflung, weil ich nichts dagegen hatte tun können? Oder Schuld, weil wir mehr gemeinsame Zeit gehabt hätten, wenn ich mich ihm gegenüber früher geöffnet hätte? Im Moment fühlte ich nur eine große Leere in mir, in deren tiefem Innern ein unbändiges Chaos herrschte. Teilnahmslos schaute ich auf die Tasten des Flügels vor mir, die in völliger Ruhe jede einzelne an ihrem Platz saßen und darauf warteten, bespielt zu werden. Obwohl er es mir bei einem unserer Streits angedroht hatte, hatte Kai das Instrument nicht wieder verkauft und sobald ich nach unserer Versöhnung hier eingezogen war, hatte ich wieder begonnen zu spielen. Als wir am Donnerstag zurückgekommen waren, hatten mich meine Füße wie ferngesteuert in diesen Raum und zum Klavierhocker getragen, aber ich hatte seither nicht eine einzige Taste angeschlagen. Ich stand morgens auf, zog mir etwas an, lief hoch ins Musikzimmer, setzte mich an den Flügel und saß den ganzen Tag dort, bis Kai mich ins Bett brachte. Dort schlief ich ein und am nächsten Morgen wiederholte sich das Ganze. Irgendwie beruhigte mich diese Routine. Sie gab mir das Gefühl, immer noch irgendwie die Kontrolle über die Dinge zu haben. Ich wusste, dass Kai sich Sorgen machte. Und nicht nur er, sondern auch Julian, Lena, Sina und das halbe Internet, nachdem irgendwie herausgekommen war, dass ein Familienangehöriger von mir gestorben war. Das alles hatte ich zwar mitbekommen, aber es war nicht wirklich bei mir angekommen. Als wäre das alles in weiter Ferne und ich wäre irgendwo weit weg und beobachtete das Geschehen nur, ohne eingreifen zu können. Stumm starrte ich auf die Tasten des Flügels, als seien sie ein Anker, der mich davon abhielt unterzugehen. Es klingelte an der Haustür und ich konnte dumpfe Stimmen hören, aber es interessierte mich nicht, wer da gekommen war. Es war später Samstagnachmittag, mit hoher Wahrscheinlichkeit war es Julian, der Kai vom Fußballspiel erzählte, das dieser mir zuliebe hatte ausfallen lassen. Ich lauschte der Stille, die zurückkam, sobald die beiden ins Wohnzimmer gegangen waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, dann lag meine Konzentration wieder auf den Tasten des Flügels und ich beobachtete sie so lange, bis es an der Tür zum Musikzimmer klopfte. Jemand betrat den Raum und lief zum Flügel, es waren nicht Kais Schritte. Emotionslos sah ich auf und stellte fest, dass es Julian war. "Hey Lilli, ich wollte dir gerne was zeigen. Kai hat mir erzählt, dass dein Vater eine Weile vom Musik machen gelebt hat und ich hab ein Video von ihm im Internet gefunden, wo er Gitarre spielt. Ich dachte das möchtest du vielleicht gerne sehen." Er stellte sein Handy auf den Notenständer vor mir und ich entdeckte meinen Vater auf dem Bildschirm. Er saß mit einer Gitarre auf dem Schoß an einer Straßenecke und spielte und sang ein Lied, das ich nicht kannte. Es war ein trauriges Lied, denn es handelte von den Schuldgefühlen eines Mannes, nachdem er seine Frau und sein Kind verlassen hatte und sie nicht mehr wiederfand. Stumm schaute ich das Video bis zum Ende, doch als Julian sein Handy anschließend wieder wegnehmen wollte, schlug ich seine Hand weg und startete das Video von neuem. Dass Kai mittlerweile im Türrahmen stand, hatte ich kaum mitbekommen, viel zu sehr war ich auf dieses Video fokussiert. Immer und immer wieder schaute ich es mir an und schließlich legte ich meine Finger auf die Tasten des Flügels und begann mitzuspielen. Die ersten Töne passten noch nicht perfekt, aber je länger ich spielte, umso besser ergänzte es sich mit der Musik aus dem Handy und ich hörte Kai leise "Wow" murmeln. Instinktiv schloss ich die Augen und als ich sie wieder öffnete, kam es mir so vor, als ob mein Vater mit der Gitarre auf dem Schoß direkt neben mir sitzen würde und mich anlächelte. Ich erwiderte sein Lächeln schwach und an seinem Blick erkannte ich, dass er auch ohne Worte verstand, dass es mir Leid tat. Es tat mir Leid, dass wir nicht mehr Zeit miteinander gehabt hatten, weil ich ihm zunächst keine Chance gegeben hatte. Und es tat mir Leid, dass ich ihm so lange die Schuld an meinem verkorksten Leben gegeben hatte. Mein Vater hatte mir in unserer kurzen gemeinsamen Zeit das Gefühl gegeben, mich wirklich zu lieben und damit war er der erste Mensch in meinem Leben, bei dem ich dieses Gefühl wirklich gehabt hatte, wie nie zuvor. Natürlich hatte Mama gute Tage und Wochen gehabt, in denen sie mir das Gefühl gab, ich sei das Beste, was ihr passieren konnte. Aber es gab eben auch genug Momente, in denen sie mir dieses Gefühl wegnahm und alles zunichte machte, was sie mir zum Teil nur wenige Stunden zuvor liebevoll ins Ohr geflüstert hatte. Das Lied neigte sich dem Ende zu und die Einbildung meines Vaters neben mir begann langsam zu verblassen. Ich wollte ihn bitten zu bleiben und mich nicht allein zurückzulassen, aber dann wurde mir klar, dass er längst weg war. Das hier war nur eine wunderschöne, bittersüße Illusion, die wie eine Seifenblase zerplatzen würde, sobald ich in die Realität zurückkehrte. Ich spürte, wie meine Hände bei den letzten Tönen leicht zu zittern begannen, dann schlug ich die letzte Taste an und weigerte mich, sie loszulassen. Mein Vater war kaum noch zu sehen, aber dafür hörte ich jetzt seine Stimme. "Lass los, meine Kleine." Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, die Taste einfach weiter gedrückt zu halten, um so die Illusion meines Vaters weiterleben zu lassen, dann entschied ich, dass er Recht hatte und ließ mit einem leisen Seufzen die Taste los, woraufhin der Ton sofort verstummte. Mein Vater verschwand lächelnd und ich saß wieder am Flügel, neben dem Julian stand und zu Kai schaute, der im Türrahmen stand. Mit einem kleinen Nicken griff ich nach dem roten Tuch, breitete es über den Tasten des Flügels aus und klappte die Abdeckung herunter. Dann schob ich den Klavierhocker zurück, stand auf und lief zu Kai, der mich überrascht ansah. "Jetzt hab ich Hunger."



Und damit endet die Lesenacht. Vielen Dank an @emmi1509 @lyyleni @aboutfootballove @Mrs_White04 @Faehmr @Cheesenudel und @Mxrxmarie für die Kommentare und natürlich an jeden, der gevotet und in den letzten Stunden mitgefiebert hat🙏🏻 Schlaft gut, wir sehen uns beim nächsten regulären Update am Sonntag oder Montag😊

_C_

Let's get married!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt