Fourty

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"Hallo Schatz, ich bin zu Hause!", rief ich lächelnd ins Haus hinein, worauf ich aber keine Antwort bekam. Irritiert streifte ich mir die Schuhe von den Füßen und lief den Flur entlang, wo mir plötzlich ein köstlicher Geruch entgegenschlug. Mit knurrendem Magen ging ich in die Küche, wo Kai am Herd stand und kochte. Als er mich hörte, drehte er sich zu mir um und grinste mich an. "Hey, wie war die Uni?" "Gut. Was zauberst du denn da Leckeres?", erkundigte ich mich, während ich die Distanz zwischen uns überbrückte und ihn von hinten umarmte und mich gegen ihn lehnte. "Kalbsgeschnetzeltes mit Reis und Brokkoli. Wenn du den Tisch deckst, können wir in fünf Minuten essen." "Das klingt gut, dann geh ich nur noch schnell meine Tasche nach oben bringen und kümmere mich anschließend ums Besteck." Mit diesen Worten löste ich mich von Kai, küsste ihn rasch auf die Wange und lief anschließend nach oben ins Schlafzimmer und ins Bad, um mir die Hände zu waschen. Seit ich Kai alles erzählt hatte und besonders, seit wir das Gespräch mit seiner Familie gehabt hatten, war zwischen Kai und mir wieder alles wie vor ein paar Wochen. Wir verhielten uns sowohl öffentlich als auch privat wie ein Pärchen, was es vor den Kameras und unseren Freunden wirklich deutlich leichter machte, weil man nicht so stark das Gefühl hatte, sich verstellen zu müssen. Nachdem ich im Badezimmer fertig war, lief ich wieder runter und deckte den Tisch, dann kam Kai auch schon mit dem Essen aus der Küche. Wir wollten uns gerade hinsetzen, als es an der Haustür klingelte und ich genervt aufstöhnte. "Wer hält mich denn jetzt schon wieder vom Essen ab?" Missmutig stapfte ich zur Haustür, vor der ein Kurier mit einem großen braunen Umschlag in der Hand wartete. "Sind Sie Lilli Havertz?" "Ja." "Gut, dann bitte einmal hier unterschreiben, dass der Brief zugestellt wurde." Ich tat, was er sagte und erhielt den Umschlag, dann verließ der Kurier das Grundstück und ich lief zurück ins Wohnzimmer, wobei ich den Brief bereits öffnete. "Hey, wer war an der Tür?", erkundigte Kai sich neugierig. "Ein Kurier, der einen Brief für mich hatte", murmelte ich und zog einen Stapel Papiere aus dem Umschlag. Unsicher überflog ich den Text und schluckte, was Kai nicht verborgen blieb. "Ist es was schlimmes?" "Keine Ahnung. Irgendwie nicht und irgendwie schon. Ich wurde offiziell als Moritz' Meinhardts Tochter anerkannt und trage ab jetzt die Verantwortung dafür, was mit ihm geschehen soll. Also ob er in einen Sarg oder eine Urne soll und wo er beerdigt wird und alles." Ich hatte den Tod meines Vaters mittlerweile eigentlich ganz gut verarbeitet, aber dieser Brief traf mich trotzdem unerwartet hart. Kai bemerkte das und stand auf, um mich in seine Arme zu schließen. "Wir regeln das alles, okay? Gemeinsam." Ich nickte schwach. "Danke."

Nervös strich ich mein schwarzes Kleid zurecht und zupfte nochmal an der Strumpfhose, dann richtete ich mich leise seufzend auf und verließ das Bad. Kai erwartete mich bereits im Flur und hielt mir die Hotelzimmertür auf, dann verließen wir das Gebäude, liefen zum Auto und fuhren zum Friedhof. Ich hatte lange überlegt, welche Art von Bestattung sich mein Vater wohl gewünscht hätte und letztendlich war mir klar geworden, dass er zwar ein Weltenbummler gewesen, seine Heimat aber immer Frankfurt gewesen war. Aus diesem Grund hatte ich beschlossen, dass er in Frankfurt beerdigt werden sollte und ich hatte es sogar geschafft, ihn auf demselben Friedhof beerdigen zu lassen, wie meine Mutter. Gestern waren Kai und ich nach Frankfurt gefahren und heute war es soweit. Mit aufwendiger Internetrecherche und der Hilfe von den Schwestern im Hospiz und im Krankenhaus hatte ich es geschafft, einige Freunde und Bekannte meines Vaters ausfindig zu machen, die heute ebenfalls anwesend sein würden, was mich ein wenig nervös machte. Diese Menschen kannten meinen Vater vermutlich besser als ich und hatten deutlich mehr Zeit mit ihm verbracht, während ich ihn nur kurz kennengelernt hatte. Seufzend schaute ich aus dem Fenster, dann spürte ich plötzlich etwas an meiner Hand, die in meinem Schoß lag und schaute überrascht nach unten. Kai hatte die rechte Hand vom Lenkrad genommen und nach meiner gegriffen und ich fühlte mich sofort etwas besser, weil ich wusste, dass ich das hier nicht alleine durchstehen musste. Viel zu schnell erreichten wir den Friedhof und stiegen aus dem Auto aus. Unter unseren Füßen knirschte es, als wir den Weg zu der kleinen Kapelle einschlugen, in der tatsächlich schon ein paar wenige Menschen waren. Mit erhobenem Kopf lief ich auf eine Frau zu, die ich vom Foto ihres Facebook-Profils wiedererkannte. Mein Vater hatte regelmäßig bei ihr gewohnt, wenn er von seinen Reisen zurückkam und nicht direkt einen Job fand. "Hallo Frau Röhrig. Es ist schön, Sie endlich kennenzulernen." "Ich wünschte, die Umstände wären andere", erwiderte mein Gegenüber und ich nickte. "Danke, dass Sie heute hier sind. Das hätte meinem Vater bestimmt viel bedeutet." Jetzt lächelte die Frau, die vom Alter her meine Mutter hätte sein können. "Ich glaube es hätte ihm am meisten bedeutet, dass Sie hier sind. Er hat oft von Ihnen gesprochen und sich Vorwürfe gemacht, weil er Sie und Ihre Mutter verlassen hat. Sie waren Moritz' ganzer Stolz, obwohl er Sie kaum kannte." Ihre Worte trieben mir Tränen in die Augen. "Dankeschön."

Ich begrüßte auch noch alle anderen Gäste, dann begann die Beerdigung und ich war erneut unglaublich dankbar für Kai an meiner Seite. Der Pfarrer hatte mit den wenigen Informationen, die ich ihm über meinen Vater hatte geben können, eine wundervolle Predigt geschaffen, die nicht nur mir die Tränen in die Augen trieb und als wir schließlich die Kapelle verließen und den Pfarrer und den Männern folgten, die den Sarg trugen, hatte ich bereits eine halbe Packung Taschentücher verbraucht. Während ich dabei zusah, wie der Sarg meines Vaters in die Erde gelassen wurde, schweifte mein Blick über den Friedhof und blieb schließlich beim Grab meiner Mutter stehen, an dem ich ewig nicht gewesen war. Als ich es angelegt hatte, hatte ich mich bewusst für eine flach liegende Steinplatte entschieden, denn so musste man sich nicht um irgendwelche Bepflanzungen kümmern und ich war nach ihrer Beerdigung nur zwei Mal wieder am Grab gewesen, bevor ich nach Amerika geflohen war. Innerlich seufzend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Grab meines Vaters, trat vor und warf eine Schippe Erde und eine dunkelrote Rose hinein, dann trat ich zurück und Kai wiederholte das, was ich getan hatte. Nachdem jeder der Anwesenden das getan hatte, wurde mir von fast allen nochmals kondoliert und ich bedankte mich für die teilweise sehr weiten Anfahrten, die einzelne auf sich genommen hatten. Als der Friedhof schließlich bis auf Kai und mich leer war, sah der Dunkelhaarige mich fragend an. "Und jetzt?" "Ehrlich gesagt würde ich gerne noch zum Grab meiner Mutter gehen. Ich war insgesamt erst drei Mal dort und das war alles noch vor Amerika." "Soll ich mitkommen oder möchtest du alleine sein?", erkundigte Kai sich verständnisvoll und allein die Tatsache, dass er mich das fragte, ließ mein Herz schmelzen. "Ich würde lieber alleine sein, wenn das okay ist." "Natürlich ist das okay. Ich warte im Auto." Sanft küsste er mich auf die Stirn, dann beobachtete ich, wie er den Friedhof verließ und rührte mich erst von der Stelle, als ich ihn nicht mehr sehen konnte. Dann lief ich zum Grab meiner Mutter und ging davor in die Hocke. "Kennst du mich noch? Es ist lange her, fast schon eine Ewigkeit. Und das tut mir wirklich Leid, Mama. Ich bin einfach abgehauen und hab es im Grunde genommen nicht besser gemacht, als Papa damals. Ich hab ihn übrigens kennengelernt und kann jetzt absolut verstehen, wieso du dich damals in ihn verliebt hast. Leider hatten wir nur wenig Zeit zusammen, aber ich hoffe, dass ihr jetzt gemeinsam an einem besseren Ort seid und er dich dort um Verzeihung bittet, sodass ihr zusammen glücklich werden könnt. Ich hab dich lieb, Mama. Ich glaube, das hab ich dir nicht oft genug gesagt, als du noch gelebt hast. Und egal was war, du bist und bleibst meine Mutter. Für immer."

Let's get married!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt