Fourty-Eight

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❗️Warnung❗️
In diesem Kapitel wird Lilli sehr detailliert vom Zusammenleben mit ihrer Mutter und deren Sucht sprechen. Wenn jemand von euch mit solchen Darstellungen Probleme hat oder sie ihn triggern, dann bitte ich euch, das Kapitel nicht zu lesen🙏🏻







"Ich war im Gefängnis."

Unsicher wartete ich auf eine Reaktion von Julian, der jedoch keine Miene verzog und mich noch immer genauso sanft ansah, wie eben. "Ich verstehe. Kai wusste es nicht, als ihr geheiratet habt, sondern hat es erst vor kurzem herausgefunden." Ich nickte schwach. "Vielleicht- vielleicht fange ich einfach von vorne an zu erzählen. Ähm, mein Vater hat meine Mutter und mich verlassen, als ich noch klein war. Ich hab keine Erinnerung mehr daran, aber meine Mutter hat ihn geliebt und sich davon nie wirklich erholt. Sie- sie hat viel Alkohol getrunken. Und irgendwann, da hat ihr das nicht mehr gereicht und sie- na ja, sie hat angefangen, andere Drogen zu nehmen. Besonders Kokain. Da war ich ungefähr 14 und je älter ich wurde, umso öfter hat sie mich losgeschickt, um ihr ihr Zeug zu besorgen. Ich hab nebenbei gejobbt, damit wir Geld für das Lebensnotwendige haben, weil Mama all ihr Geld für die Drogen brauchte. Und dann ist alles schiefgegangen. Wir hatten uns gestritten, sie hatte Entzugserscheinungen und war total gereizt und ich hatte am Tag davor einen Korb von dem Jungen bekommen, den ich mochte und wir haben uns irgendwie hochgeschaukelt. Ich hab sie angeschrien, dass ich abhauen würde und ich glaube ein Teil von mir hat gehofft, dass sie mich aufhält und mir sagt, dass ich bleiben soll, weil sie mich lieb hat." Ich stockte, weil sich Tränen in meinen Augen gebildet hatten, aber ich wischte sie entschlossen weg, und fuhr fort: "Aber das hat sie nicht getan. Stattdessen hat sie gesagt, dass ich das machen soll, weil sie mich dann nicht mehr durchfüttern muss. Ich hab angefangen zu weinen, aber sie hat nur gesagt, dass ich sie nicht nerven soll und als ich nicht aufgehört habe zu weinen, hat sie nach einer leeren Glasflasche gegriffen und sie nach mir geworfen. Sie ist an der Wand neben mir zersplittert und hat mich im Gesicht verletzt, aber das hat meine Mutter nicht interessiert. Sie hat nur gesagt, dass ich mich zum Teufel scheren soll. Aber ich- ich konnte nicht gehen, verstehst du? Sie war doch meine Mama, ich hatte sonst niemanden und ich hab sie geliebt. Also hab ich meinen Rucksack und mein Erspartes vom Arbeiten genommen und hab ihr Wodka und Kokain gekauft. Auf dem Weg nach Hause, bin ich an einer Straße vorbeigelaufen, von der ein Auto abgekommen war. Der Fahrer war bewusstlos und die Beifahrerin eingeklemmt und ich wusste, dass ich helfen musste. Also hab ich so gut wie möglich erste Hilfe geleistet, aber dann hab ich die Sirenen gehört. Weißt du, die meisten Leute denken an nichts schlimmes, wenn sie Sirenen hören. Das bedeutet ja häufig, dass jemand Hilfe braucht und diese Hilfe unterwegs ist. Aber wenn du den Rucksack voller Drogen hast, sind Sirenen wie ein Elektroschock. Sie lassen dich erstarren, bis es zu spät ist. Ich hab mir in letzter Sekunde meinen Rucksack geschnappt und bin losgerannt, aber ich hab keine 300 Meter geschafft, bevor mich jemand von hinten zu Boden gerissen hat. Es war eine mittelalte Polizistin und ich werde niemals ihren überraschten Blick vergessen, als sie mir die Kapuze vom Kopf gerissen und ein junges Mädchen entdeckt hat. Aber genauso kann ich ihren entsetzten Blick nicht vergessen, als sie meinen Rucksack aufgemacht und die Drogen gefunden hat. Ich musste mit aufs Revier, meine Mutter wurde angerufen und sie hat verdammt gut geschauspielert. Niemand hat kapiert, dass sie eine Drogenabhängige ist, weil sie sich ihr letztes bisschen Make Up ins Gesicht geschmiert und frisch gewaschene Klamotten getragen hat." Ich hörte, wie abfällig und bitter meine Stimme klang, aber ich konnte nichts dagegen tun und auf eine sonderbare Art und Weise tat es gut, diese Abneigung endlich mal rauszulassen und mir über meine Gefühle klarzuwerden. In diesem Moment damals, hatte ich meine Mutter verabscheut. Das war mir vorher nie so bewusst gewesen, wie jetzt gerade. "Ich hab meine Mutter geliebt, als kleines Kind war sie für mich die tollste Frau der Welt. Aber die Drogenabhängige, die eine Flasche nach mir geworfen hat, die habe ich gehasst. Trotzdem hab ich der Polizei nichts gesagt. Ich hab so lange geschwiegen, bis sie durch Überwachungskameras rausgefunden haben, dass ich den Wodka und das Kokain illegal gekauft habe, dann wurde mir der Prozess gemacht und ich hab die Schuld auf mich genommen. Da war so ein weinzig kleiner Teil in mir, der gehofft hat, dass meine Mutter dadurch kapiert, was ihre Sucht für uns bedeutet. Dass die Sucht uns voneinander trennt, uns regelrecht auseinanderreißt. Aber sie hat gar nichts begriffen. Ich saß monatelang im Gefängnis und sie hat mich kein einziges Mal besucht. Als ich rauskam, hab ich erfahren, dass sie so lange die Miete nicht bezahlt hat, dass sie aus der Wohnung geschmissen wurde und einfach bei unserer Nachbarin eingezogen ist, die gestorben war. Kannst du dir das vorstellen? Sie hat Frau Jorisch tot in ihrer Wohnung gefunden und statt das zu melden, hat sie sie nachts irgendwo vergraben und deren Wohnung als ihre eigene genutzt. Ich hab versucht, meinen Job wiederzukriegen, aber als Vorbestrafte wollte mich keiner nehmen und meine Mutter hat mir jeden verdammten Tag gesagt, wie sehr sie es hasst, dass ich aus ihrem Geldbeutel lebe. Wir haben uns wieder und wieder gestritten, aber es war anders, als vor dem Gefängnis. Es war mir egal. Sie war mir egal. Diese wenigen Monate in Gefangenschaft haben mich verändert und in diesem Moment empfand ich das als positiv. Sie hatten mich abgehärtet, mir geholfen ein dickes Fell zu bekommen. Es gibt kaum Fotos von mir, aber an eins aus der Zeit kann ich mich erinnern. Ein paar Leute aus meinem Jahrgang haben ein Abi-Nachtreffen gemacht und ich bin hingegangen. Keiner von denen wusste, dass ich im Gefängnis gewesen bin, keiner hat verstanden, wieso ich nicht gelächelt habe. Und dann haben wir dieses Foto gemacht und jeder hat es geschickt bekommen und- ich- ich hab es angesehen- aber das- das war nicht ich auf diesem Bild. Das war jemand anders, der nur so aussah, wie ich. Als ich von dem Treffen nach Hause gefahren bin, hab ich mir vorgenommen, meine Sachen zu packen und abzuhauen. Egal wohin, von mir aus auch auf die Straße, völlig egal. Meine Bewährungszeit war vorbei, ich war ein freier Mensch. Als ich die Tür zur Wohnung aufgeschlossen habe, stieg mir ein seltsamer Geruch in die Nase und es hat einen Moment gedauert, bis ich ihn erkannt habe. Es war der Geruch von Erbrochenem und Tod. Eigentlich war mir in diesem Moment schon klar, was mich erwarten würde, wenn ich um die Ecke biege und den nächsten Raum betrete. Trotzdem hab ich es getan. Und vor mir lag meine Mutter auf dem Boden vor dem Sofa, ein Häufchen weißes Pulver war noch auf dem Wohnzimmertisch, die fast leere Wodkaflasche stand daneben und mein einziger Gedanke war: 'Wie bekomme ich das Erbrochene aus dem Teppich?' Dass meine Mutter tot vor mir lag, das hab ich zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen. Ich hab sie ins Bad getragen, ihre Sachen ausgezogen und sie frisch gemacht, dann hab ich sie aufs Sofa gelegt, als ob sie schlafen würde, hab die ganze Wohnung geputzt und in ihrem Namen einen Abschiedsbrief geschrieben. Du hättest diesen Brief sehen sollen, er war fantastisch, wirklich herzzerreißend. Meine geliebte Tochter, es tut mir so Leid, blablabla, Du hattest ein besseres Leben verdient, als ich es dir je hätte ermöglich können, blablabla, Ich liebe dich und hoffe du kannst mir verzeihen, dass ich gehe, um dir keine Last mehr zu sein, blablabla. Dann hab ich die Polizei gerufen und den Beamten unter Tränen erzählt, dass ich meine Mutter tot auf dem Sofa gefunden habe. Sie haben es mir geglaubt, niemand hat daran gezweifelt, dass sie so friedlich auf dem Sofa liegend gestorben ist, indem sie mehrere Flaschen Alkohol schnell hintereinander getrunken hat. Und weißt du, was das wirklich bescheuerte daran war? Damit es echt wirkt, hab ich acht leere Flaschen neben das Sofa gestellt, genau die acht, die wir noch in der Wohnung hatten, weil ich wenige Tage zuvor das Altglas weggebracht hatte. Und damit die letzte Flasche auch wirklich leer war, hab ich den Inhalt in ein Glas geschüttet und selbst getrunken. Auf diese Art, hab ich meiner Mutter gedacht. Weil ich mir sicher war, dass wenn ich sterben würde, sie sich als erstes einen Drink genehmigen würde." Ich verstummte und sah Julian an, der mir die ganze Zeit einfach nur stumm zugehört hatte. "Hast du das Kai erzählt?", fragte er und ich schüttelte den Kopf. "Nicht so im Detail." "Das solltest du tun. Ich hab dir jetzt eine ganze Weile zugehört und ich hatte wirklich das Gefühl, dich verstehen zu können, weil du alles genau beschrieben hast. Du solltest Kai auch die Möglichkeit geben, dich zu verstehen."


Jetzt kennen wir deutlich mehr Details über Lillis Vergangenheit. Was haltet ihr von ihrer Geschichte und dem Verhältnis zu ihrer Mutter? Könnt ihr nachvollziehen, wieso sie hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrer Mutter und dem Hass auf die Drogenabhängige war?

Let's get married!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt