Fourty-Nine

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Ich hatte Julian auch noch alles andere erzählt. Wie die Beerdigung meiner Mutter gewesen war, wie meine Reise nach Amerika begonnen hatte und wie ich dort gescheitert war, bis ich Kai kennenlernte und auch die Streits, die wir seitdem gehabt hatten. Er hatte mir weiterhin ruhig zugehört, sein Rat war derselbe geblieben. Ich sollte Kai alles genauso erzählen, wie ich es Julian erzählt hatte, damit auch er mich verstehen konnte. Julian war sich sicher, dass Kai mich liebte und einfach verletzt war, aber ich war mir da nicht ganz so sicher. In den folgenden Tagen dachte ich viel über das Gespräch mit Julian nach, über die Dinge, die mir dabei bewusst geworden waren. Zum Beispiel, dass ich meine Mutter geliebt, aber das drogenabhängige Monster gehasst hatte. Und wie sehr ich eigentlich darunter gelitten hatte, nicht von ihr geliebt zu werden. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, jemandem wirklich wichtig zu sein. Und vielleicht war das genau der Grund, wieso ich mich in Kai verliebt hatte. Weil mir zum ersten Mal in meinem Leben jemand das Gefühl gegeben hatte, seine oberste Priorität zu sein. Und deswegen hatte es auch so weh getan, als er mir gestanden hatte, dass Olivia ihm immer noch etwas bedeutete. Kai war wie meine Mutter und Olivia wie die Drogen. Ich hatte meine Mutter an die Drogen verloren, den einzigen Menschen, den ich je wirklich geliebt hatte. Und ich hatte Angst davor, Kai an Olivia zu verlieren, denn nach meiner Mutter war er der erste Mensch, den ich liebte. Ich wusste nur noch nicht, was das jetzt für ihn, für mich und für uns bedeutete und genau das hielt mich davon ab, ihm tatsächlich alles zu erzählen.
Ich hörte, wie unten das Telefon klingelte und dann Kais Stimme, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Wenige Minuten später erklangen Schritte auf der Treppe, dann klopfte es an die Tür des Büros. "Herein." Vorsichtig betrat Kai das Zimmer und ich sah ihn fragend an. "Die Polizei hat ein paar Teenager gefunden, die Videos von sich gemacht und dabei zufällig gefilmt haben, wie Olivia eine Weile hinter einem parkenden Auto steht und wartet, bis du um die Ecke biegst. Dann ist sie losgerannt und so konnte sie beim Aufprall mitten auf der Straße sein und behaupten, du hättest sie absichtlich angefahren." Mit großen Augen sah ich den Dunkelhaarigen an. "Sie ist gewollt vor mein Auto gelaufen, damit es mir angehängt wird?" "Das ist noch nicht klar. Vielleicht- vielleicht wollte sie sich auch umbringen und wenn statt dir ein anderes Auto gekommen wäre, hätte sie das genommen." Bitter sah ich Kai an. "Du kannst dir vorstellen, dass ich sie absichtlich anfahre, aber du kannst dir nicht vorstellen, dass sie sich absichtlich vor mein Auto schmeißt. Nicht zu fassen." "Lilli, bitte, so war das nicht gemeint. Ich wollte dir einfach nur Bescheid sagen, dass mir das eben gerade eine Polizistin am Telefon gesagt hat und sie aber halt noch nicht wissen, was genau Olivias Beweggründe waren." Verständnislos schüttelte ich den Kopf. "Du kapierst es einfach nicht, oder? Das Einzige, was ich mir wünsche, ist, dass du endlich mal zu mir stehst statt zu ihr! Weil du mich geheiratet hast und nicht sie!" "Wir führen eine Scheinehe, das ist nicht dasselbe", entgegnete Kai sofort und tötete damit die letzten Illusionen, die ich hatte, dass er meine Gefühle vielleicht erwiderte. Niedergeschlagen sah ich ihn an. "Gut, dass wir das geklärt haben. Deine Schein-Ehefrau hat jetzt zu tun, also lass mich bitte in Ruhe arbeiten." Demonstrativ wandte ich mich wieder meinem Laptop zu, während Kai den Raum verließ. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sackte ich jedoch seufzend auf meinem Stuhl zusammen. Er hatte sich nichtmal bei mir dafür entschuldigt, dass er mich fälschlicherweise verdächtigt hatte. Er schien mir wirklich kein bisschen mehr zu vertrauen. In dem Moment, in dem mir das klar wurde, fasste ich einen Entschluss. So konnte es nicht weitergehen.

Alle Vorbereitungen waren getroffen, sogar schneller als erwartet. Trotz all dem Stress, den ich in der Uni gehabt hatte, weil ich ja einige Tage wegen der ganzen Sache mit Olivia unpässlich gewesen war, hatte ich das Notwendigste vorbereiten können. Jetzt saß ich in Kais und meinem Schlafzimmer und starrte auf die fünf Bilderrahmen auf der Kommode. Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu, als Kai von meiner Vergangenheit erfahren und mich rausgeschmissen hatte. Ich war ins Schlafzimmer gegangen und hatte eine Menge Klamotten und andere Sachen in die Tasche gepackt, die ich aus Amerika mitgebracht hatte. Die Tasche, mit der ich damals nach Amerika aufgebrochen war und die mich auch auf dem Rückweg nach Deutschland begleitet hatte. Es war seltsam, aber diese Tasche schien das einzig konstante in den letzten Jahren meines Lebens gewesen zu sein und dieser Gedanke zauberte mir ein trauriges kleines Lächeln auf die Lippen. Nachdenklich legte ich den Kopf schief und erinnerte mich an den Moment zurück, in dem ich mit der Tasche neben der Tür gestanden hatte, mit Tränen in den Augen, völlig aufgeschmissen, weil ich noch nicht wusste, was ich dem Taxifahrer für eine Adresse nennen würde, sobald ich dieses Haus verlassen hatte. Letztendlich war es Julians Adresse gewesen und die Zeit bei ihm und Lena war trotz all der Umstände irgendwie schön gewesen. Es kam mir beinahe so vor, als würde ich mich selbst wieder neben der Kommode stehen sehen, auf der die Fotos standen. Jedes einzelne war etwas besonderes, obwohl drei Fotos echt und zwei gestellt waren. Da war das Bild aus unserem angeblichen gemeinsamen Ausflug nach Los Angeles. Wir standen auf dem Hall of Fame und Kai kniete neben mir und tat so, als sei er irgendein Fangirl und ich ein bekannter Promi, der angehimmelt wurde. Vor dem Greenscreen hatte sich diese Pose absolut umauthentisch angefühlt, aber das bearbeitete Bild war wirklich gut geworden. Daneben stand das Foto vom 80. Geburtstag von Kais Oma. Damals hatte er Streit mit seiner Mutter gehabt, weil sie mir nicht traute und er mich verteidigt hatte. Das war noch gar nicht lange her, trotzdem kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Wie schnell sich die Dinge doch ändern konnten. Das dritte Bild war auch vor dem Greenscreen entstanden und während es damals unglaublich seltsam gewesen war, im Bikini neben Kai in der Badehose zu stehen, sahen wir gemeinsam am Strand wirklich gut aus. Daneben stand mein Lieblingsbild von uns beiden. Das Bild, das Sina nach meinem ersten Besuch im Stadion gemacht hatte, als ich voller Stolz zu Kai gelaufen war und wir uns geküsst hatten. Auf diesem Foto wirkte unsere Liebe so echt, dass ich sie uns 100%ig abgekauft hätte, wenn ich es nicht besser gewusst hätte. Genau dieses Bild hatte ich vor gar nicht allzu langer Zeit mitgenommen, als Kai mich rausgeschmissen hatte und bei meiner Rückkehr hatte ich es wieder an seinen alten Platz gestellt. Damals waren es insgesamt vier Bilder gewesen, mittlerweile waren es fünf. Mit Tränen in den Augen musterte ich das letzte Bild, das mich mit meinem Vater zeigte. Kai hatte es ohne mein Wissen gemacht und mein Vater und ich lachten darauf gerade so herzlich, dass ich am liebsten mitlachen würde, sobald ich das Bild sah. Ich konnte mich noch erinnern, wie Kai es mir gegeben hatte, kurz nach der Beerdigung. Ich war in Tränen der Rührung und Trauer zugleich ausgebrochen und er hatte mich in den Arm genommen und getröstet. All das schien eine Ewigkeit entfernt zu sein und ich atmete ein letztes Mal tief durch, bevor ich aufstand. Es war soweit.


Was denkt ihr, was Lilli jetzt tun wird?

Let's get married!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt