Kapitel 6

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Ich musste nicht lange warten, bis er mir schrieb. Wir verabredeten uns Eis essen zu gehen, obwohl das Wetter nicht ganz dazu passte. Denn, die Sonne schien zwar, aber man spürte trotzdem die kalte Brise des anfangenden Herbstes. Zu Mittag aß ich nichts, meine Mutter war nicht da und ich hatte keine Lust dazu, mir etwas zu kochen. „Wo gehst du denn hin?“, fragte sie, nachdem sie von der Arbeit nach Hause kam und mich beim Anziehen meiner Jacke im Flur traf. „Ich gehe Eis essen“, antwortete ich ihr und wartete auf ihre nächste Frage. Ich wusste genau, was sie mich fragen würde. „Mit wem?“, fragte sie, zog dabei eine Augenbraue hoch und grinste. „Mit jemandem aus der Schule“, gab ich zurück und verschwand schnell aus dem Haus, damit sie nicht fragen konnte, mit wem genau ich unterwegs bin. Der kühle Wind kam mir entgegen und Blätter in den strahlenden Herbstfarben sausten in der Luft umher. Im Bus war keiner außer mir und einer älteren Dame. Sie erinnerte mich sehr an meine Großmutter. Ihre Locken, ihr gekrümmter Körper, ihre Schwäche und das kurze Lächeln, das sie mir einmal zu warf, brachte mich dazu, zu verstummen. Wie schön es doch wäre, wenn meine Großmutter noch leben würde. Aber auch, wenn ich sie noch ein letztes Mal sehen könnte, wäre ich überglücklich. Sie fehlt mir. Ich verbrachte früher die meiste Zeit mit ihr. Sie war meine beste Freundin. Nachdem der Bus am Straßenrand zur Stadtmitte hielt, stieg ich aus. Es war nicht weit zum Eiscafe und ich musste nur eine kurze Strecke laufen. Meine Knie wurden weich. Ich war nicht aufgeregt, ihn zu sehen, sondern möglicherweise zu erfahren, warum ich seine Gedanken nicht lesen kann. Als ich ankam, war er schon da. „Ich habe befürchtet, dass du nicht kommst“, sagte er. Bin ich so eine Person? „Deshalb freut es mich sehr, dass du hier bist“, fügte er noch hinzu. „Ich halte mich an Verabredungen“, gab ich zurück und betrat das Cafe. Er kam mir natürlich hinterher und wir setzten uns an einen Tisch. Ich hörte die Gedanken der anderen. Sie wunderten sich über mein Aussehen. Kann ich verstehen, nicht jeder trägt solche Kleidung. Eine Angestellte, die ich in dem Cafe noch nie zuvor gesehen hatte, kam und nahm unsere Bestellung auf. Ich bestellte mir ein Früchteeis. Meine Großmutter liebte es. Wir saßen oft gemeinsam in dem Cafe. Ich machte meine Hausaufgaben, während sie strickte und mir bei einigen Dingen half. Ich ließ mein Blick zu unserem Stammplatz gleiten. Keiner saß dort, er war leer. Ich war erleichtert. Der Platz gehört meiner Großmutter und mir, und keinem anderen. „Was begeistert dich gerade so?“, fragte Noah und sah in dieselbe Richtung, wie auch ich, doch er wusste nicht, was genau ich anstarrte. „Nichts“, sagte ich und drehte mich wieder zu ihm. „Nach nichts sah das nicht aus“, sagte er, wollte mehr erfahren. Unsere Bestellung kam. Die Frau an der Kasse musterte mich. Sie erinnerte sich noch an mich, aber war sich nicht sicher. Ihre Gedanken verrieten alles. Die Angestellten, die hier schon früher gearbeitet haben, kannten meine Großmutter gut, mich daher auch. Sie wissen auch, was mit meiner Großmutter geschehen ist. Ich hörte ihren Gedanken: 'Sie ist es.' Ich griff nach meinem Löffel und fing an zu essen. Ich nahm einen Löffel der Vanilleeiskugel und genoss den Geschmack. Es schmeckte, aber nicht so gut wie Blut. „Schmeckt es dir?“, fragte Noah. Ich nickte zufrieden. „Ja und dir?“ Er nahm einen Löffel mit einer Erdbeere und ein wenig Eis in den Mund. Grinste dabei. „Köstlich“, sagte er nachdem er runtergeschluckt hatte. Ich beobachtete ihn beim Essen. Er aß schnell, einen Löffel nach dem anderen, genoss es aber trotzdem. Ich nahm durch genaues Hinhören auch das aufgeregte Zucken seines Beines wahr. Nachdem sein Becher leer war, sah er mich verblüfft an. „Warum isst du nicht?“, fragte er. Ich musste lügen, da ich ihm ja
schlecht sagen konnte, dass ich statt zu essen, lieber ihn anstarrte und seine für mich ungewöhnliche, menschliche Art bewunderte. „Ich hab keinen großen Hunger“, sagte ich. Eigentlich hatte ich Hunger, ich habe immer Hunger. Hunger nach Blut. Er schnappte sich seinen Löffel und half mir. „Jetzt ess es mit mir auf“, sagte er mit vollem Mund. Ich lächelte und aß eine Kirsche. Nachdem wir mein Eis dann schließlich aufhatten, bezahlten wir. „Du warst lange nicht mehr hier“, sagte die Kassiererin. Ich nickte bedrückt. Auch sie war auch ein wenig traurig, das konnte man in ihren Augen sehen. Sie verstand sich am besten von allen, die dort arbeiten, mit meiner Großmutter. „Kennst du sie?“, fragte Noah als wir das Cafe verlassen hatten. „Sie...“, Tränen stiegen mir in die Augen, ich drückte sie weg. „Meine Großmutter kannte sie“, sagte ich. Es war nicht leicht für mich zu antworten. Ich habe den Tod meiner Großmutter noch immer nicht verkraftet,
obwohl es schon lange her ist, dass sie starb. Noah stellte keine weiteren Fragen. Wir setzten uns auf eine Bank im Park. Nur wenige Enten schwammen im Teich herum. Ich sah hoch zur Sonne. Durch die vorbeikommenden Wolken war sie manchmal kurz zu sehen. „Hast du Geschwister?“, fragte ich. „Einen älteren Bruder“, antwortete er mir, nicht ganz so sanft. Er mag seinen Bruder scheinbar nicht sehr. „Und du? Hast du Geschwister?“ Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, aber ich hätte gerne einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester. Jemanden, mit dem ich über alles reden kann. Jemanden, der mich beschützt, vor Dingen, die gefährlich sind.“ 'Jemanden, der auf mich aufgepasst hätte, damit ich noch menschlich wäre', dachte ich mir. Früher war meine Großmutter diese Person. „Ich passe auf dich auf“, sagte Noah. Ich starrte irritiert in die Ferne. Was hatte er gesagt? „Ich schaffe das selbst, danke“, gebe ich etwas lauter zurück, damit er versteht,
dass ich ihn für so etwas nicht brauche. Ich bin ja schon stark genug, um mich zu verteidigen. Aber dennoch hätte ich gerne jemanden zum Reden. „Tut mir leid, ich hab nicht nachgedacht“, entschuldigte er sich, wie immer. „Deine Entschuldigungen kannst du dir sparen“, flüsterte ich leise vor mich hin. Ich spürte einen Tropfen auf meinen Kopf fallen. Es wurden immer mehr. Sie strömten mir mein Gesicht hinunter, doch ich saß reglos da. „Lass und gehen“, sagte ich dann schließlich und lief weg, Noah kam mir nach. 

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