Cassy

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‚Tot. Tot. Tot', geistert mir immer wieder durch den Kopf. Seit Tagen denke ich an nichts Anderes mehr. Immer wieder sehe ich Kikis bleiches Gesicht vor mir, als ich mich verabschiedet hatte. Meine sonst so muntere und lebensfrohe Schwester ... tot.

Die Beerdigung hatte ich kaum mitbekommen. Meine Freunde habe ich kaum wahrgenommen, meine Tante nur mehr oder minder flüchtig mich mal unterhalten.

Ich habe mitbekommen, dass Matteo sich heute Morgen verabschiedet hat. Aber der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schwirrt, ist ‚tot'.

Mein Magen knurrt unüberhörbar. Müde blinzle ich ein paar Mal. Ich sitze wie immer in meinem Erker, starre auf den Garten hinab, an dessen Rand vom Blumenbeet sich eine einzelne Sonnenblume emporreckt und sich zur Sonne dreht.

Kikis Lieblingsblumen. Seufzend lasse ich meinen Atem entweichen. Kiki hätte es schön gefunden, wie die Sonnenblume ihren Weg findet und zusammen mit der Sonne strahlt.

Wieder knurrt mein Magen. Eine Übelkeit überfällt mich, der Hunger treibt mich regelrecht ins Badezimmer, wo ich tief über der Toilette gebeugt Galle hochwürge. Als mein Blick danach in den Spiegel fällt, erschrecke ich kurz.

So eingefallen und abgekämpft sah ich noch nicht einmal nach meinem Koma aus. Sofort schießen mir Erinnerungen von damals in den Kopf, Matteo der mein Handy gehalten hatte, damit ich mit Kiki telefonieren konnte. Und ihre ersten Sätze, die sie da zu mir sagte: ‚Du hast dich gehen lassen. Meine Schwester lässt sich niemals gehen'.

Tränen rinnen mir die Wangen hinab und schluchzend lasse ich mich auf den Badezimmerboden sinken. Schmerzen ziehen sich von meiner Brust bis in den gesamten Körper, bis in jede einzelne Fingerspitze und in jeden einzelnen Zeh. Meine Augen brennen unter den vielen Tränen, die ich weine, ein Zittern erfasst mich und ich schnappe immer wieder nach Luft.

‚Du hast dich gehen lassen. Meine Schwester lässt sich niemals gehen'. Diese kleine Stimme in meinem Hinterkopf flüstert diesen Satz immer und immer wieder.

Langsam versiegen meine Tränen und auch mein Atem beruhigt sich. Das Zittern hört auf und ich kann mir das nasse Gesicht abtrocknen.

Sie hat Recht. Kiki war ein Freigeist gewesen und hatte viele, falsche Entscheidungen getroffen, aber sie wusste, wie das Leben lief. Und sie wusste, wie ich lief. Und sie wusste, ich muss einmal fallen, um wieder aufzustehen.

Langsam rapple ich mich auf und schaue mich im Spiegel an. So kann das nicht weitergehen. Kiki wäre enttäuscht von mir.

Die Dusche rüttelt mich langsam aber sicher wach. Frisch geduscht mit etwas Make-Up, um mein bleiches Gesicht zu überdecken, ziehe ich mich an und gehe in die Küche hinunter. Esse seit Tagen gefühlt das erste Mal wieder etwas und schaufle mir beinahe acht Toasts hinein, bis ich fürchte gleich zu platzen.

Dann ziehe ich mir etwas dickere Sachen an, gehe nach hinten in den Garten und hole mein Fahrrad aus dem Schuppen. Dann radle ich los.

Mein Weg führt mich quer durch Erfurt. Ich radle Kikis Lieblingsstelle an, die Zitadelle auf dem Petersberg. Dort schiebe ich mein Fahrrad direkt zur Mauer, wo sie immer gesessen hat und klettere hinauf. Dann nehme ich Platz und schaue auf Erfurt hinunter.

Leichter Wind kommt auf und die Blätter der Bäume unterhalb der Zitadelle beginnen zu rascheln. Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken und tauchen Erfurt in einen goldenen Glanz.

Ich hatte noch nie verstanden, weswegen Kiki so oft hier oben war. Nun tue ich es. Es hat etwas friedliches und beruhigendes an sich.

Mein Handy klingelt in meiner Tasche. Ich lasse es klingeln, ich möchte diesen Augenblick nicht unterbrechen. So wie die Sonne gerade scheint, Erfurt in ihr goldenes Licht hüllt, fühle ich mich gerade meiner Schwester am nächsten. Kann endlich von ihr Abschied nehmen.

Erneut klingelt mein Handy. Entnervt schaue ich auf das Display. Elias. Ich drücke ihn weg und schalte dann mein Handy ab. Egal was er mir zu sagen hat und egal um was es geht, es kann warten.

Seufzend schließe ich für einen Moment die Augen, der Wind streicht mir über das Gesicht und wirbelt sanft meine Haare durcheinander. ‚Leb wohl, Kiki!'.

In aller Freundschaft: die jungen Ärzte - LifelinesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt