Gelangweilt schlenderte ich durch das Dorf. Die Leute strömten mit eiligen Schritten an mir vorbei, ohne mich zu beachten. So oft hatte ich versucht mich unsichtbar zu machen, doch jetzt, wo ich bemerkt werden wollte, schien ich tatsächlich unsichtbar zu sein. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau rempelte mich an. Sie lief einfach weiter, ohne sich auch nur umzudrehen, als ob sie nichts bemerkt hätte. Ich blickte ihr kopfschüttelnd nach. Wie sollte ich mir einen Ruf als Heilerin verdienen, wenn nicht mal jemand bemerkte, dass ich existierte. Laut seufzend ließ ich mich neben einer Hausecke auf den Boden nieder. In meinem Beutel kramte ich nach dem Brot, welches ich mir im letzten Dorf gekauft hatte. Neben vielen getrockneten Kräutern und meinem Wasserschlauch fand ich schließlich die noch übrige Hälfte des Brotlaibes.
Langsam riss ich mundgerechte Stücke ab und steckte sie mir in den Mund. Plötzlich bemerkte ich Augen, die mich über die Straße hinweg anstarrten. Zwischen den vielen Menschen, die durch die Gasse strömten brauchte ich etwas um den Besitzer der Augen auszumachen. Auf der anderen Straßenseite saß, fast vom Schatten des Hauses verschlungen, ein kleiner Junge in zerlumpten Kleidern. Da wurde mir bewusste, dass er nicht mich, sondern das Brot anstarrte. Ich blickte auf den Laib, der nun nur noch zum drittel vorhanden war. Umständlich raffte ich meine Sachen zusammen, stand auf und versuchte mir einen Weg über die Straße zu bahnen.
Auf der anderen Seite blickte ich mich irritiert um. Dort, wo ich den Jungen gesehen hatte, war niemand. "Hallo?" rief ich "Komm raus, ich will dir nichts tun." Hinter mir raschelte es und als ich mich umwandte kam er unter einer Plane hervorgekrochen. "Hallo" sagte ich freundlich "Ich bin Leika und wer bist du?" Der Junge sah mich mit seinen großen braunen Augen ängstlich an. Sein Gesicht war so mit Schmutz bedeckt, dass man ihn im Dunkeln bestimmt nicht gesehen hätte. Aufgrund seiner Größe schätzte ich ihn auf ca. zehn Jahre. "Magst du mir deinen Namen nicht verraten?" Der Junge schüttelte den Kopf. "Schon gut, magst du was von meinem Brot?" fragte ich und reichte ihm ein Stück von dem Brot. Seine Augen schienen noch größer zu werden und er sah mich misstrauisch an. "Du kannst es gerne nehmen, ich werde nichts als Gegenleistung dafür verlangen." Schüchtern streckte er seine Hand aus und ich gab ihm das Stück.
Ohne mich aus den Augen zu lassen biss er von dem Brot ab. Dann vergass er seine Scheu und verschlang das Stück Brot in Windeseile. Ich lachte: "Na, du kannst aber bestimmt noch ein Stück vertragen oder?" Ich gab ihm ein weiteres Stück. Von meinem Brot war nur noch ein faustgroßes Stück übrig. Auch das zweite Stück verschwand schneller, als ich gucken konnte. Ich ließ mich neben dem Jungen nieder, der mich nicht mehr so scheu ansah. "Tom" kam es plötzlich von dem Jungen. "Ist das dein Name?" Tom nickte. "Schön dich kennen zu lernen Tom." Ich reichte ihm meine Hand. Nach kurzem Zögern ergriff er sie und wir schüttelten die Hände.
"Kommst du vom Waisenhaus?" Ich hatte auf meinem Weg hierher ein großes alleinstehendes Gebäude gesehen. Oft wollten die Leute im Dorf die Waisen nicht zu nah an ihrem Dorf haben. Ein Umstand, den ich absolut engstirnig fand. Wieder nickte Tom. "Hier!" ich reichte ihm den Rest des Brotes. Er machte eine abwehrende Geste. "Nimm ruhig, ich finde schon noch was zu essen." Er zögerte, doch ich wedelte ihm mit dem Brot unter seiner Nase herum und er konnte nicht widerstehen. Diesmal aß er langsam und ließ sich das Brot richtig schmecken.
Mit einem Mal entdeckte ich an seiner Hand unter dem Schmutz etwas rotes. "Kannst du mir deine Hand zeigen?" Tom hörte auf zu essen und versteckte seine Hand hinter seinem Rücken. "Ich möchte dir nichts tun, ich möchte dir helfen. Ich verstehe etwas von der Heilkunst und das an deiner Hand sieht nach einer Wunde aus." Nach und nach kam die Hand wieder zum Vorschein und schließlich streckte er sie mir hin. "Ich werde sie mit Wasser reinigen. " erklärte ich ihm um ihn nicht nochmal zu erschrecken. Dann holte ich meinen Wasserschlauch aus meinem Beutel und säuberte vorsichtig seine Hand. Zum Vorschein kam eine Wunde, die sich seine ganze Handkante entlangzog. Sie schien schon mindestens eine Woche alt zu sein, doch der Schutz hatte zu einer Entzündung der Wunde geführt. Seine halbe Hand war Rot und warm.
"Das sieht gar nicht gut aus. Ich werde dir etwas anmischen um die Entzündung zu lindern. Dafür habe ich hier einige Pflanzen, aber ich brauche noch ein paar mehr Zutaten. Wo kann ich dich morgen finden? Bist du morgen früh im Waisenhaus?" Tom nickte. "Sehr gut, dann komme ich morgen früh zu dir und helfe dir mit deiner Wunde." Ich holte eine Stoffrolle hervor und riss einen langen Streifen ab. Dann tränkte ich die ersten zwei Handbreit mit Alkohol. "Ich habe hier einen Verband. Den musst du bitte bis morgen tragen und möglichst sauber halten. Kriegst du das hin?" Tom nickte eifrig. "So, ich lege dir den jetzt an, das wird kurz ziemlich heftig brennen, bitte nicht die Hand wegziehen." Eindringlich sah ich Tom an und er kniff die Augen zu. SOrgfältig legte ich den Verband an und hörte, wie er heftig die Luft einzog. "Ich bin fertig. Geht es wieder?" Tom machte die Augen auf und schaute auf den weißen Stoff an seiner Hand, der im Gegensatz zu seiner restlichen Kleidung viel zu grell wirkte.
"Also tapferer Tom, wir sehen uns dann morgen." Ich lächelte Tom an und stand auf. Jetzt würde ich erstmal Pflanzen suchen und eine Salbe anrühren. Das würde den restlichen Tag dauern und wenn ich mich nicht beeilte, dann würde ich es nicht mehr vor dem Sonnenuntergang schaffen. Ich strubbelte Tom einmal durchs Haar und ging davon.
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Die Güte des Menschen ist meine Währung
Historical FictionJa, wir sind arm und genau das war der Grund, weshalb ich gerade still und heimlich von zuhause weglief. „Ich werde wiederkommen, ich weiß noch nicht wann und wie, aber ich komme wieder. Bitte vergesst mich nicht." Meine Worte waren nicht mehr als e...