Kapitel 29

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Viktors Sicht:

Nervös lief ich auf dem Internatshof auf und ab. Es war mittlerweile Abend und ich presste aufgeregt mein Handy an mein Ohr.
"Hey mein Schatz, wie geht es dir? Schön, dass du dich meldest.", hörte ich die fröhliche Stimme meiner Mutter durch den Hörer bis in mein Ohr schallen. "Hey Mom. Ich muss dir was sagen.", fing ich zaghaft an. Ich hatte solche Angst vor ihrer Reaktion. Ich hoffte so sehr, sie würde es dieses Mal akzeptieren. Alleine, dass ich mich ein zweites Mal vor ihr outen musste, war schon absurd, aber hier war ich nun. Ich konnte es einfach nicht weiter geheim halten. Zumindest nicht vor meiner Familie. Obwohl mein Vater davon nicht begeistert sein würde. Er würde bestimmt wieder auf mich einschlagen.
"Okay, schieß los.", sagte sie sanft und ich sammelte mich noch einmal kurz, bevor ich meinen ganzen Mut zusammen nahm und anfing zu erzählen. "Erinnerst du dich noch an die Sache, die ich euch in den Herbstferien erzählt habe?" "Ja, dass du dir eingebildet hast du seist ne Schwuchtel.", unterbrach sie mich mit scharfer Stimme. Ich schloss meine Augen und atmete geräuschvoll aus. Bevor ich sie wieder öffnete und mich in meinem weichen, warmen Bett im Internat wieder fand.
Was war das für ein realistischer Traum?! Das brachte mich ganz durcheinander.
Ich hatte vorm Einschlafen tatsächlich darüber nachgedacht, es meinen Eltern zusagen und diesmal auch zu mir zustehen, aber nach diesem Traum, war ich mir da nicht mehr so sicher. Sie würden mich nie akzeptieren. Niemand würde das. Wie auch? Wenn ich es nicht mal selbst konnte.

Aber irgendwem musste ich mich anvertrauen, sonst würde ich nur noch mehr daran zerbrechen. Nur wem sollte ich mich anvertrauen? Frau Schiller? Oder doch Hauser? Wenn ich es Hauser erzählen würde, wäre ich bei ihm bestimmt auch nur unten durch und dann könnte ich die Staffel und auch die Aussicht auf den Staffelkapitän vergessen. Und die Schiller? Naja sie war verständnisvoll, aber wie weit ging ihr Verständnis und Mitgefühl? Ich hatte einfach zu große Angst, dass sie genau so reagieren würden, wie meine Eltern es getan hatten. Und was passieren würde, wenn die ganze Schule es erfahren würde, das wollte ich mir gar nicht erst ausmalen.

Tills Sicht:

Auf meinen Krücken gestützt, humpelte ich Richtung Eingang der Schule.
Mittlerweile war eine Woche vergangen und ich wurde vor zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Martha hatte mich fast jeden Tag besucht, was wirklich schön war. Ich schätze, wir waren jetzt sowas wie Freunde. Meine Mutter hatte sich natürlich nicht bei mir gemeldet. Meine Geschwister und Lutz waren mal wieder wichtiger. Es war klar, aber trotzdem konnte ich gegen die Enttäuschung nichts machen. Ich hatte gehofft, dass es dieses eine Mal anders laufen würde. Aber dem war nicht so.
Frau Schiller meinte zwar, ich hätte noch im Internat bleiben sollen und mich schonen, aber ich wollte unbedingt zur Schule. Ich musste einfach wissen, was da genau nach meinem Unfall passiert ist und ob es wirklich Viktor war, der mich gerettet hatte. Auch wenn ich eigentlich gar nicht in der Nähe dieses Trolls sein wollte, war die Neugier und der Drang, die Wahrheit herauszufinden stärker als die Angst ihm gegenüber.
"Till?! Was machst du denn schon wieder in der Schule?! Komm, ich helf dir. Gib mir deine Tasche.", kam Martha auf mich zu und hielt meinen Rucksack am Träger fest, der mir locker über der Schulter hing. Ich ließ ihn von meiner Schulter rutschen und Martha nahm meine Tasche. "Danke, das musst du aber nicht tun.", sagte ich dann.
"Ich mach das aber gerne.", sagte sie schlicht und wir gingen dann zusammen zur Klasse. Natürlich schauten mich alle an, als wäre ich ein Außerirdischer. Dann am Spind sah ich Viktor. Er schien mir schon wieder aufzulauern, aber als er mich dann sah, ging er in die Klasse. Verwirrt schaute ich ihm nach. Kein Spruch? Keine Drohung? Kein abfälliger Blick? Hatte ich da tatsächlich Erleichterung in seinen Augen aufblitzen sehen? Das war unmöglich. Es war Viktor. Der kannte sowas doch nicht. Verwundert folgte ich Martha dann auf unseren Platz.
Nach der Schule wollte ich dann endlich mit Viktor reden. Klar, hätte ich ihm auch im Internat abfangen können, aber ich musste es einfach jetzt wissen.
"Hey Viktor. Hast du nen Moment? Ich möchte mit dir reden.", sagte ich schon fast schüchtern. "Was gibt's?", fragte er genervt. "Stimmt es? Dass du mich da im Waschraum gerettet hast?" Er zuckte mit den Schultern. "Schon möglich. Aber glaub jetzt ja nicht, dass wir Freunde sind oder so was.", schob er direkt mit harter Miene hinterher. "Wieso trägst du so viel Wut in dir?", fragte ich kopfschüttelnd. "Das geht dich nen Scheißdreck an.", kam es wieder drohend von ihm. "Ich glaube ich weiß wieso du so bist.", sagte ich dann und schaute ihm direkt in seine Augen. "Nen Scheiß weißt du!", sagte er bissig und drehte sich dann um und ging wutentbrand davon. Fuck, jetzt hatte ich mich immer noch nicht bedankt und mehr heraus gefunden hatte ich auch nicht. Ganz toll Till.
Nachdenklich blickte ich Viktor hinterher. Irgendwas hatte sich verändert, aber ich wusste nicht was.
Das Hupen von Frau Schillers Auto, riss mich von dem Jungen los und mein Blick suchte jetzt den Parkplatz nach der blonden Frau ab.
Dann erblickte ich sie und steuerte auf sie zu. Auch sie kam mir entgegen, um mir meine Tasche abzunehmen.
"Und wie war der erste Schultag nach so langer Zeit?", fragte sie mich dann als wir im Auto saßen. "Ganz gut.", sagte ich knapp. Eigentlich war es tatsächlich ein richtig guter Tag gewesen, weil ich bis jetzt kein einziges Mal runter gemacht wurde. Aber der Tag war auch noch nicht vorbei, weswegen ich immer noch auf einen großen Knall wartete. Vielleicht hatten sie ja wieder mein Zimmer verwüstet.
Doch als ich dort ankam, schien auch hier alles normal zu sein. Ich legte mich erledigt in mein Bett. Den ganzen Tag auf Krücken rumzulaufen war doch anstrengender als gedacht.
Ich schloss gerade meine Augen, als es an der Tür klopfte. Genervt schlug ich sie wieder auf und blickte zur Tür. Und wer dann das Zimmer betrat, ließ mich erschaudern. Es war Lutz. Wieso war er hier? "Hallo Till. Ich habe große Lust mich mal wieder mit dir zu unterhalten. Wir haben schon so lange nicht mehr miteinander gesprochen. Und du bist so frech und dreist geworden, da möchte ich dir gerne helfen das zu ändern. Damit du wieder vernünftig und ein anständiger junger Mann wirst." Seine Stimme war ruhig. Gefährlich ruhig. Ich zitterte direkt am ganzen Körper und kalter Angstschweiß bildete sich in meinen Handinnenflächen. Ich setzte mich auf, um wenigstens ein bisschen größer zu wirken, aber natürlich baute er sich wie der König persönlich vor mir auf. "Liegst auch schon wieder den ganzen Tag nur im Bett rum! So erreicht man nichts im Leben. Aber das wirst du ja eh nicht. Du bist ein Versager. Ein Nichtsnutz." Seine Worte raubten mir die Luft zum Atmen und steigerten meine Selbstzweifel bis ins Universum. Dann packte er meinen Arm und zog mich vom Bett. Ich konnte mich wegen meines kaputten Beins nicht abfangen und landete unsanft auf dem Boden. "Jetzt simuliere doch nicht! Du hast nur einen Kratzer am Bein. Also steh verdammt nochmal auf und benimm die wie ein anständiger Mann!", herrschte er mich wieder an. Unter viel Mühe und Schmerzen rappelte ich mich umständlich auf und stand nun vor ihm. "Weißt du eigentlich wie viele Kilometer wir wegen dir machen mussten?! Dafür hast du schon die ersten Schläge verdient." Kaum hatte er es ausgesprochen, da spürte ich schon seine Hand auf meiner Wange. "Wenn du uns nochmal wegen sowas anrufst, dann gibt es richtig Ärger. Hast du das verstanden?!" "Ich hab euch doch gar nicht angerufen.", versuchte ich ihm verzweifelt klar zumachen. Jetzt brannte auch meine rechte Wange vor Schmerz. "Lügen tust du auch noch?!", schrie er mich an und jetzt verlor er komplett die Beherrschung. Seine Fäuste prasselten unkontrolliert auf mich ein und ich verlor mein Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ich versuchte mich so gut es ging zu schützen, aber viel brachte es nicht. Nun waren es Tritte, die mich trafen. Ich würde sterben. Er würde mich umbringen. Dann trat er mir gegen mein verletztes Bein und ich schrie so laut auf, dass sie es draußen hören mussten.
Dann wurde ich an meinen Schultern gepackt und ich riss panisch die Augen auf. Und sah in Viktors besorgtes Gesicht. Nur langsam realisierte ich, dass ich das gerade geträumt hatte und Lutz nicht hier war.

Bad LiarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt