Kapitel 30

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Viktors Sicht:

Man wieso war ich schon wieder so gemein zu Till?! Ich wollte das doch nicht mehr, aber die Wut übernahm immer wieder die Oberhand und ich wurde dadurch unberechenbar. So wie vorhin bei dem Gespräch auch. Er hat mich nur was ganz normales gefragt, aber ich musste mal wieder ausfallend werden. Ich wollte jetzt endlich mit jemanden reden, um den ganzen Ballast loszuwerden. Also stand ich nun total nervös vor der Bürotür von Frau Schiller und klopfte. Wenn ich mich jemanden anvertrauen konnte, dann ihr. "Ja?", rief sie von Innen. Vorsichtig trat ich ein. "Oh Hi Viktor. Was kann ich für dich tun?", fragte sie sichtlich überrascht, mich zusehen. "Haben sie Zeit? Ich muss da mal was loswerden.", fing ich zögernd an. Shit. Das würde das schwerste Gespräch meines Lebens werden. "Klar. Setz dich doch.", sagte sie und es trat ein skeptischer Ausdruck in ihre Augen. Also nahm ich auf dem Stuhl platz und rieb mir nervös die schweißnassen Hände an meiner Hose ab. "Ich weiß gar nicht wie ich anfangen soll.", sagte ich leise und total verunsichert. "Fang an, wann immer du bereit bist.", sagte sie. Sie schien es zuspüren, dass es kein leichtes Thema war, welches ich gleich auf den Tisch bringen würde. Ich sammelte mich nochmal kurz, bevor ich dann drauf losredete. Und je mehr ich redete desto mehr Last viel von mir ab. Ich erzählte ihr wirklich alles. Auch das mit Till. "Ich war es der ihn die Monate über fertig gemacht und schikaniert hat. Ich hab ihm wirklich grausame Dinge angetan und miese Lügen über ihn verbreitet." "Wieso?" "Aus Verzweiflung. Aus Dummheit. Aus Liebe.", flüsterte ich das letzte Wort und sie sah mich mit großen Augen an. "Liebe?", harkte sie nach. Ich nickte. Und dann wurde ich wieder direkt wütend und funkelte sie böse an. "Abartig oder?! Dass ein Mann einen Mann liebt?! Na los! Lachen sie, ekeln sie sich vor mir!", forderte ich sie völlig ungehalten auf. "Viktor, wieso sollte ich so reagieren?", fragte sie verwirrt. "Man sucht sich schließlich nicht aus, wen man liebt, sondern es passiert einfach."  Erstaunt sah ich sie an. Wow. So eine Reaktion kannte ich gar nicht. "Natürlich rechtfertigt das auf keinen Fall was du Till da angetan hast. Er war wegen dir im Krankenhaus! Und, so leid es mir tut, werde ich das mit den Schulleitern besprechen müssen. Sie werden dann darüber entscheiden was mit dir passiert. Außerdem werden wir deine Eltern davon in Kenntnis setzen müssen." "Wirklich? Meine Eltern? Muss das wirklich sein?! ", flehte ich verzweifelt. "Keine Sorge, dein Geheimnis allerdings, ist bei mir sicher.", sagte sie dann sanfter. Ich nickte dankbar. "Ich wollte jetzt zu Till gehen und ihm alles erklären. Ich will nicht weiter dieser Mensch sein. Ich will endlich meinen Frieden finden und wenn Till nicht das selbe fühlt dann weiß ich es endlich und kann ein neues Leben anfangen. Ohne Lügen. Ohne Gemeinheiten. Ohne mich selbst zu verlieren. Ähm können Sie da vielleicht mitkommen?", fragte ich dann kleinlaut. Sie nickte zur Bestätigung und so fanden wir uns wenige Augenblicke später vor Tills Zimmer wieder. "Ich bewundere deinen Mut, Viktor.", sagte sie noch, bevor ich dann an der Tür klopfte. Wie oft ich hier schon stand und nichts getan hatte. Wie oft ich hier schon stand und ihn nur wieder erniedrigt hatte. Plötzlich hörten wir ein lautes Poltern und einen Schrei aus seinem Zimmer. Ohne nachzudenken stieß ich die Tür auf und stürmte hinein. Dann sah ich ihn auf dem Boden vor seinem Bett liegen. Er schrie und wimmerte. Träumte er etwa? Ich rüttelte ihn leicht an seinen Schultern und er riss panisch seine Augen auf. "Bitte nicht. Es reicht. Ich will nicht mehr.", sagte er noch ganz durcheinander. "Hey Till. Was ist los?", fragte ihn Frau Schiller dann sanft. Und ich ließ ihn schwerenherzens wieder los und entfernte mich lieber ein paar Meter von ihm. Er sollte nicht denken, ich wollte ihm jetzt was Böses. "Wo ist er?", fragte er und schaute sich panisch im Raum um. "Wer?", fragte Frau Schiller verwirrt. "Lutz. Mein Stiefvater. Er war hier. Oder? Er wollte. Er hat mich. Er." "Till, ganz ruhig. Er ist nicht hier. Deine Eltern sind schon wieder auf den Weg nach Hause." Was hatte dieses Arschloch nur mit ihm gemacht, dass er so panisch wurde, wenn er nur an ihn dachte?! "Komm, steh erstmal auf.", sagte Frau Schiller dann zu dem immer noch am Boden liegenden blonden Jungen. "Ich kann nicht. Mein Bein.", sagte er leise. Jetzt trat ich wieder näher an ihn ran. Doch auch da zuckte er zusammen und es traf mich. Er hatte Angst vor mir. Natürlich hatte er das. Vor ein paar Tagen noch hätte mich dieses Gefühl von Macht noch befriedigt, aber jetzt war es einfach nur peinlich und ich schämte mich zutiefst. "Ich will dir helfen.", sagte ich sanft und griff ihm dann vorsichtig unter die Arme, zog ihn ohne Probleme hoch und setzte ihn aufs Bett. Dabei war ich ihm so nah wie noch nie und mein Herz drohte mir vor Aufregung aus der Brust zuspringen. Aus Angst, brachte ich dann schnell wieder Abstand zwischen uns und ich musterte ihn besorgt. "Till komm schon. Rede mit mir.", sagte Frau Schiller sanft und kniete sich vor ihn hin. "Ich kann nicht.", sagte er verzweifelt und weinte dann plötzlich los. Sie nahm ihn in den Arm und direkt überkam mich wieder diese Wut. Ich würde das nie einfach so können. Ihn in den Arm nehmen. Ihm den Halt geben. Für ihn da sein. Ihm so nah sein. Auch emotional gesehen. Traurig und wütend verließ ich dann das Zimmer. Heute würde ich wohl nicht mit ihm reden können. Wenn ich es je könnte. Die Angst auf Zurückweisung war einfach zu mächtig. Ich wollte, aber langsam verließ mich der Mut und ob ich ihn Morgen oder die nächsten Tage erneut aufbringen konnte, bezweifelte ich stark. Vielleicht sollte ich mich einfach damit zufrieden geben es Frau Schiller gesagt zu haben. Vielleicht war genau das meine Bestimmung. Dieses abgefuckte Versteckspiel.

Tills Sicht:

"Es wird alles gut.", sagte Frau Schiller während ich wie ein Häufchen Elend in ihren Armen weinte. Ich konnte es nicht mehr länger unterdrücken und da ich die Tränen jetzt einmal freigelassen hatte, stoppten sie auch nicht so einfach wieder. Ich war wirklich ein Versager. Sie hatten von Anfang an recht.
"Willst du mir vielleicht erzählen, was es mit deinem Stiefvater aufsich hat?", fragte sie dann nach einer Weile, in der die Tränen allmählich trockneten. Ich überlegte lange bis ich mich schließlich dazu durchrang ihr meine ganze Geschichte zuerzählen. Ich musste es jetzt loswerden. Und zwar komplett. Ich erzählte ihr von dem ganzen Scheiß den mir Lutz die Jahre über angetan hatte. Die Demütigungen. Die Gewalt. Die Erniedrigung. Die Manipulationen. Einfach alles. "Sie müssen mir versprechen, dass ich nie wieder zurück in dieses Haus komme.", sagte ich am Ende voller Hoffnung. "Till, das kann ich nicht. Du bist unter 18. Wenn sie sich dazu entscheiden sollten, dich vom Internat zunehmen kann ich nur versuchen es ihnen auszureden, aber verbieten kann ich es ihnen nicht. Und selbst entscheiden kannst du es rein rechtlich auch nicht.", sagte sie sachlich. Ich nickte. War klar, dass sie mich auch fallen lassen würde, wenn es drauf ankommen würde. "Okay.", sagte ich und setzte wieder meine Maske auf. Ich war jetzt lange genug schwach. Aber jetzt würde ich meine Gefühle wieder hinter der Maske verstecken. Mich zu öffnen brachte anscheinend nichts. Ändern würde sich trotzdem nichts. "Ich wäre jetzt gerne alleine.", sagte ich dann. "Meinst du das ist ne gute Idee? Komm doch mit runter. Ich wollte mit ein paar Leuten gleich ne Runde Karten spielen."  "Mit wem?", fragte ich skeptisch. Schließlich mochten mich, Dank Viktor, die meisten nicht. "Niklas, Linus, Vanessa, Maja und Viktor.". "Nein danke.", sagte ich direkt als ich den Namen Viktor hörte. Auf den konnte ich sowas von verzichten. Obwohl er mir vorhin schon wieder geholfen hatte. Was war nur los mit diesem Typen? Er war insgesamt viel netter, seit meinem Unfall. Also immer noch nicht nett zu mir, aber netter. Sollte der Unfall der Auslöser dafür gewesen sein? Man dieser Typ brachte mich noch um den Verstand! Er war unberechenbar und immer wenn ich dachte ich könne ihn einschätzen, handelte er ganz anders als erwartet.
"Vielleicht überlegst du es dir ja noch anders. Wir sind unten im Gemeinschaftsraum.", riss mich Frau Schillers Stimme aus meinen Gedanken. Ich nickte und kurz bevor sie durch die Tür war, hielt ich sie mit einem "Ach Frau Schiller." auf und sie drehte sich nochmal zu mir um. "Danke.", sagte ich und sie nickte mir zu und verschwand dann aus der Tür. Ich ließ mich auf meinen Rücken fallen und starrte an die Decke. Was war hier schon wieder passiert?!
Der Traum und das Gespräch hatten mich total aufgewühlt und ich wusste nicht wohin mit mir. Normalerweise würde ich jetzt laufen gehen und so viel rennen, bis ich wieder das taube Gefühl in mir spüre, aber mit meinem Bein konnte ich das vergessen.
Sollte ich vielleicht doch runter gehen und bei dem Spiel mitmachen? Aber mit Sicherheit wollten sie mich gar nicht dabei haben. Niemand wollte das.

Bad LiarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt