Kapitel 19

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Marthas Sicht:

Scheiße man. Panisch rannte ich über den Flur, bis ich endlich einer Krankenschwester begegnete. "Entschuldigung! Sie müssen mir helfen. In Zimmer 178. Da hat mein Freund gerade einen Zusammenbruch. Bitte kommen Sie schnell!", rief ich ihr entgegen und blieb dann außer Atem vor ihr stehen. Sie schaute mich erst kurz verwundert an, doch verstand dann was ich gerade gesagt hatte und folgte mir direkt. Im Zimmer stellte ich mich besorgt ans Bettende und beobachtete die Szene. Till lag immer noch völlig neben sich getreten im Bett und schien geistig überhaupt nicht mehr hier in diesem Raum zu sein. "Hallo? Till kannst du mich hören?!", fragte die Krankenschwester ihn laut und deutlich. Doch es kam keine Reaktion. Skeptisch sah ich dann dabei zu, wie sie einen Arzt dazu rief. Ich hielt meinen Atem an und klammerte mich an meiner Halskette fest. Ironiescherweise war der kleine Anhänger ein Anker. Er gab mir Halt.
Ich musste ihnen dabei zusehen, wie sie ihm ein Beruhigungsmittel spritzten und er dann einschlief.
Wie kaputt musste dieser Junge sein, dass es ihn in so einen Zustand versetzte, wenn er darüber sprach was ihm widerfahren war? Wie weit war Viktor nur gegangen? Wie traumatisiert musste Till sein?
"Entschuldige bitte, aber es ist wohl besser wenn du jetzt gehst. Er braucht jetzt viel Ruhe und im Augenblick kannst du nichts für ihn tun.", bat mich die Krankenschwester dann mit gedämpfter Stimme hinaus. Ich nickte wie in Trance und verließ dann mit mulmigem Gefühl im Bauch das Krankenhaus und fuhr wieder zurück nach Hause. Wieso war mir dieser Junge so schnell so wichtig geworden? Ich verstand es ja selbst nicht, aber irgendwie war da ein unsichtbares Band zwischen uns, welches uns auf eine undefinierbare Art und Weise miteinander verband. Auch wenn wir uns noch kaum kannten.
Erschöpft schloss ich die Haustür auf, striff mir meine Schuhe von den Füßen und hing meine Jacke an den Harken. Direkt kroch mir der vertraute Duft von Vanille in meine Nase, der mir zeigte: Ich war zu Hause. Meine Eltern saßen im Wohnzimmer und schauten sich die Nachrichten an. "Bin wieder da.", sagte ich und schaute kurz um die Ecke. "Hi. Wie war dein Tag?", fragte mich meine Mutter natürlich sofort. "Gut.", sagte ich nur. Ich musste ihnen ja nicht unter die Nase reiben, dass ich gerade aus dem Krankenhaus kam. Das würde sie nur unnötig aufregen und beängstigen. Glücklicherweise harkten sie auch nicht weiter nach, sodass ich mich auf mein Zimmer verkriechen konnte. Schließlich erwarte ich ja noch einen Skypeanruf von Leo. Zumindest hatte er mir diesen heute Mittag zugesichert.
Schon ein wenig nervös holte ich meinen Laptop und setzte mich mit diesen auf meinen Balkon. Ich schaltete ihn an und trommelte ungeduldig auf den Tasten rum und betrachtete mich skeptisch in dem schwarzen Bildschirm. Das Mädchen hatte ganz zerzauste Haare und es lagen tiefe Sorgenfalten auf ihrer Stirn. Der Anrufton von Skype riss mich dann los und schnell nahm ich den Videoanruf an. Direkt erschien Leos strahlendes Gesicht. Automatisch musste ich auch grinsen. Und jetzt merkte ich erst wie sehr ich ihn vermisst hatte. "Hallo Schatz. Na wie geht es dir da drüben in Erfurt?" "Ooh Leo hi! Ich freue mich so!", quietschte ich schon ganz aufgeregt dem Bildschirm entgegen. Er lachte auf und genau dieses Lachen verpasste mir eine Gänsehaut und nahm mir all die Anspannung der letzten Tage. Wir redeten zwar viel, aber es war alles sehr oberflächlich. Ihn schien es gar nicht richtig zu interessieren. Auch als ich ihm dann erzählte ich würde wieder mehr laufen, meinte er nur, dass er das nicht gut finden würde. Er wolle nicht so eine durchtrainierte Freundin haben. Auch auf die Geschichte mit der Adoption, ging er gar nicht ein. Und ich merkte, wie mich dieses Gespräch nur weiter enttäuschte und mir die Fröhlichkeit und Leichtigkeit nahm, die ich am Anfang verspürt hatte.
"Sorry Leo, ich muss jetzt auflegen. Wir essen gleich. Bis dann.", sagte ich darauf hin und legte schnell auf, damit er die Tränen der Enttäuschung nicht sah, die sich jetzt ihren Weg suchten und ausbrechen wollten.

VIKTORS SICHT:

Diese ewigen Lügen machten mich fertig. Schon mein ganzes Leben lang verstellte ich mich und verleugnete mein wahres Ich. Das macht mich Stück für Stück kaputt. Und jetzt war ich auch noch so ein Arsch zu Till, dass ich so krasse Lügen und Gerüchte über ihn verbreitete. Und das nur, damit es mir ein wenig besser ging. Damit mein innerer Schmerz, diese Zerrissenheit, ein wenig gelindert wurde.
Ich wollte ihm nicht weh tun. Wirklich nicht. Aber da war ein Geheimnis, dass genau diesen inneren Schmerz verursachte. Ich dachte an unsere erste Begegnung zurück. Genau da, hatte alles angefangen.

Flashback Viktor 8 Monate zuvor:

Die Sommerferien waren vorbei und ich freute mich schon auf das neue Schuljahr. In der Staffel lief es gut und wenn ich so weiter ablieferte, wie im letzten Schuljahr, dann würde Hauser mich zum Staffelkapitän machen. Zumindest hatte er das vor den Ferien so gesagt. Aber es sollte anders kommen. Denn als ich dann im Internat ankam, sah ich IHN auf dem Hof stehen. Völlig verloren mit seinen zwei großen Koffern. Er war neu, das wusste ich direkt. "Hi brauchst du Hilfe", fragte ich ihn hilfsbereit. Er drehte sich um und schaute zu mir auf. Und ab da war es um mich geschehen. Diese Augen faszinierten mich, ab der ersten Sekunde an und zogen mich in ihren Bann. Mein Herz raste und meine Umgebung verschwamm. Es waren nur wir beide. Ich nahm keinen anderen mehr wahr. Sollte das etwa Liebe auf den ersten Blick gewesen sein? Aber ich war doch nicht schwul! Das ging nicht. Das konnte nicht sein. Außerdem wäre ich bei den Jungs sowas von unten durch, wenn sie das erführen. Zum Glück hatten sie es bis heute nicht herausgefunden. Ich war so verwirrt. Ich hatte vorher keine Sekunde daran verschwendet, dass ich auf Jungs stehen könnte, aber plötzlich stand es im Raum und ich wusste nicht wohin mit diesen Gefühlen und Gedanken.
So schwärmte ich weiter heimlich für ihn, hielt mich aber lieber von ihm fern, da es mir sonst nur mein Herz zerrissen hätte. Doch dann machte Hauser ihm zum Staffelkapitän und nicht mich und das machte mich sehr wütend. Aber ich konnte es akzeptieren. Er war wirklich gut. Problem war aber, dass ich mich selbst immer mehr verlor und mir einredete, dass ich nicht auf Jungs stehe. Dann kamen die Herbstferien. Mein ganz persönlicher Wendepunkt.
Ich musste mir eingestehen, dass ich schwul war und nunmal nicht bei heißen Mädels Herzrasen bekam, sondern bei Jungs. Naja bei diesem ganz besonderen Jungen.
Also nahm ich all meinen Mut zusammen und erzählte es meinen Eltern beim Abendessen. Doch die Reaktion darauf war heftig. Meine Mutter meinte ich wäre eine Schande für die Familie und, dass ich es für mich behalten soll, weil es nicht gut fürs Geschäft wäre, wenn sich herausstellen sollte, dass sie eine "Schwuchtel" als Sohn hätten. Ja sie sagte tatsächlich Schwuchtel. Die Worte schmerzen heute noch. Mein Vater, naja, der hatte lauthals losgelacht. Für ihn war das Ganze ein einziger Witz. Zunächst. Doch als er es dann ein paar Tage später realisiert hatte, war er der Meinung man könne mir diese "Flausen" aus dem Laib prügeln. Überraschung: Es funktioniert nicht.
Dennoch erzählte ich ihnen dann ein paar Tage später, ich hätte mir da wohl doch nur was zusammen gesponnen. Zu groß war der Druck, den sie auf mich ausübten.
Zurück im Internat, hatte ich mir geschworen mich niemanden mehr anzuvertrauen und allen zu zeigen, dass ich alles andere als eine Schwuchtel war. Dass ich ein ganzer Kerl war. Und ich weiß selbst nicht wieso, aber ich gebe Till dafür die Schuld. Wegen ihm habe ich alles verloren und er hat mir, auch wenn unbewusst, mein Herz gebrochen. Deshalb machte ich ihn so fertig.
Das, und nur das, ist die Wahrheit über mich. Jedoch wird sie nie jemand erfahren. Ich werde nie mein wahres Ich ausleben können. Ich werde mich mein Leben lang verstecken müssen und jedes Mal wenn ich mich wieder verleugne, stirbt ein Teil von mir.

Bad LiarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt