Kapitel 21

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Tills Sicht:

Man ich wollte sie ja eigentlich gar nicht wegschicken, aber wie ich schon zu ihr gesagt hatte: Es war besser so. Jetzt lag ich hier wieder alleine. Alleine mit meinen Gedanken, die mich immer mehr auffraßen. Wie konnte ich diesem Albtraum entkommen? Würde ich ihm jemals entkommen können? Sollte dieses abgefuckte Leben wirklich meine Bestimmung sein?
Erneut wurde ich durch ein Klopfen in meinen Gedankengängen unterbrochen. Es war der Arzt. "Hi Till. Wie geht es dir?", fragte er mich. Das war doch eine rhetorische Frage von ihm. "Du hast dich doch sicher gefreut, dass dich deine Eltern heute besucht haben oder?", schmunzelte er. Ich musste die Würgegeräusche echt unterdrücken. "Ja. Das war super.", sagte ich voller Ironie. "Wann kann ich denn endlich hier raus?", sagte ich dann, um das Thema auf etwas hoffentlich Positives zu lenken. "Deshalb bin ich hier. Also körperlich geht es dir wieder soweit gut. Klar die blauen Flecken brauchen noch etwas Zeit, aber dafür musst du nicht hier bleiben. Was mir aber ehrlich gesagt Sorgen bereitet, ist dein psychischer Zustand. Ich kann dich nicht dazu zwingen, aber ich würde dir einen Psychiater empfehlen. Damit du das Erlebte besser verarbeiten kannst.", erklärte er mir. Was? Ich sollte zu nem Seelenklempner gehen?! Ja klar. Als ob der was an dieser auswegslosen Situation ändern würde. Aber ich wollte endlich hier raus, weswegen ich ihm dann zustimmte. "Okay. Ich werde es mit meiner Familie durchsprechen.", sagte ich dann und setzte wieder meine Maske auf. "Okay, ich bringe dir dann gleich ein paar Unterlagen und deine Entlassungspapiere vorbei.", sagte er freundlich und war dann auch schon wieder weg. Ich würde nie im Leben so eine blöde Therapie machen. Und schon gar nicht meiner Mutter davon erzählen. Außerdem würde ich ganz sicher nicht mit einem völlig Fremden über all die intimen Gedanken und Gefühle sprechen. Und schon gar nicht darüber was zuhause und im Internat abging. Das Gespräch mit dem Arzt war und blieb eine Ausnahme.
Um mich wenigstens ein bisschen abzulenken, packte ich die paar Klamotten ein, die Frau Schiller mir gestern vorbei gebracht hatte. Dann kam der Arzt auch schon wieder, übergab mir die Unterlagen, wünschte mir noch alles Gute und verabschiedete sich von mir. Ich schulterte meine Sporttasche, schnappte mir die Zettel und ging damit zum Empfang. Dort gab ich dann die Entlassungspapiere ab und verließ endlich dieses blöde Krankenhaus. Vor der Tür sog ich erstmal die frische Luft ein und genoss kurz die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Es war fast wie in meinem Traum. Dann ging ich weiter und sah Frau Schiller schon auf dem Parkplatz stehen. Ich hatte ihr Bescheid gegeben, dass ich entlassen werde. Sie war wirklich eine gute Betreuerin und half wo es nur geht. "Hey Till. Na alles klar?", fragte sie und ich nickte nur stumm. "Na dann lass uns mal nach Hause fahren was?", lächelte sie und ich zwang mich ebenfalls zu einem Lächeln. Das Internat war nicht mein Zuhause. Dieser Ort "Zuhause" existierte für mich nicht mehr.

VIKTORS SICHT:

Ich sah aus dem Fenster und dachte über das Gespräch mit Martha heute Morgen nach. Naja Gespräch konnte man es nicht wirklich nennen. Sie hatte mich mehr angemeckert, als dass ich etwas dazu hätte sagen können. Viel hätte ich aber so oder so nicht dazu sagen können. Schließlich musste ich meine Fassade aufrechterhalten. "Nur du bist daran schuld.", hatte sie gesagt. Sie hatte recht. Natürlich war es meine Schuld. Und natürlich war es mir nicht egal, dass er im Krankenhaus gelandet war. So war das ja auch gar nicht geplant. Ich dachte er würde schon nach der Aktion mit seinem Zimmer einknicken und den Posten als Staffelkapitän aufgeben, aber er war hartnäckiger als ich dachte. Also musste ich zu härteren Methoden greifen.  Doch leider wurde ich von meiner Wut kontrolliert und hatte es übertrieben. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass er dann im Waschraum einen Zusammenbruch erleidet, total unterkühlt und ins Krankenhaus muss. Die ganzen Tage hatte ich mir Vorwürfe gemacht und die Schuld stapelte sich nur so auf meinen Schultern. Ich verletzte den Jungen meiner Träume, nur damit ich mich besser fühlte. Aber fühlte ich mich danach wirklich besser? Für einen kurzen Moment vielleicht, aber war es das Wert? Würde ich so auf Dauer glücklich werden?
Plötzlich sah ich Frau Schillers Auto auf den Hof fahren. Sie hielt an und die Beifahrertür öffnete sich. Ich sah nur seine blonden Locken, aber wusste sofort, dass es Till war. Direkt machte mein Herz einen Satz und schlug doppelt so schnell weiter. Er hatte mir mein Herz gestohlen, ich würde es ihm aber nie erzählen können. Ich war hoffnungslos in ihn verliebt. Und dafür hasste ich ihn. Es war ambivalent.
Und trotzdem freute ich mich ihn da unten unversehrt zusehen. Ich fühlte wie die Erleichterung über mich schwappte. Frau Schiller sagte irgendwas zu ihm und er schulterte seine Sporttasche und ging mit hängenden Schultern zum Eingang. Gott sah er gut aus. Auch wenn er müde wirkte. Wie ferngesteuert ging ich auf den Flur. Ich wollte ihm wenigstens einmal kurz nah sein und seinen Duft in meiner Nase spüren. Ich lehnte mich betohnt lässig an die Wand und wartete auf ihn. Doch in meinem Inneren sah es ganz anders aus. Ich war total nervös. So wie immer wenn ich ihn sah. Aber ich war nun mal ein guter Schauspieler und überspielte das immer perfekt. Genau wie jetzt auch wieder. Dann sah ich ihn die Treppe rauf kommen und sein Blick war leer. Direkt zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. "Nur du bist daran schuld!", hallten Martha's Worte erneut durch meinen Kopf. Wie gerne ich ihn jetzt einfach in den Arm nehmen würde. Aber es ging einfach nicht. Und das machte mich so wütend. So wütend, dass ich ihn böse anfunkelte und ein "Willkommen zurück in der Hölle.", vor seine Füße spuckte. Man was machte ich?! Sein Blick schoss in meine Richtung. Wie es schien hatte er mich überhaupt nicht wahrgenommen. "Lass mich.", murmelte er und ging an mir vorbei. Er sah wirklich nicht gut aus. Müde. Ausgelaugt. Kaputt. Und ich war schuld. Frustriert boxte ich gegen die Wand. Diese Verzweiflung, dieser Schmerz, ließen mich noch durchdrehen.

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