Kapitel 35

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Viktors Sicht:

Ich konnte es einfach nicht begreifen wieso ausgerechnet Martha hier saß und ich ihr auch noch erzählte, warum ich so dringend von hier weg wollte bzw. musste. Es war wegen Till. Offensichtlich. Denn nach seiner Reaktion vorhin, würde ich es keine weitere Sekunde mehr neben ihm aushalten. Und dafür brauchte er nicht mal in meiner Nähe zu sein. Wieso hatte er plötzlich so eine Macht über mich? Wann bitte hatte sich das Blatt gewendet? Sonst hatte er Angst vor mir, wenn ich nur den Raum betreten hatte, aber jetzt? Jetzt war ich der Jenige der am ganzen Körper Gänsehaut bekam, bei dem der ganze Körper unter Strom stand, sich komplett anspannte und am liebsten fluchtartig den Raum verlassen würde, wenn er nur vor der Tür stand.
Das war der Grund weshalb ich jetzt hier mit meiner Tasche saß und auf meinen Vater wartete. Natürlich hatte ich keine Lust darauf wieder zu Hause einzuziehen, aber was blieb mir anderes übrig? Ich konnte nirgends sonst hin. Automatisch fischte ich mein Handy aus meiner Bauchtasche und ließ das Display aufleuchten, um zu sehen ob mir mein Vater endlich eine Auskunft gegeben hatte, wann er endlich hier eintreffen würde. Doch ich sah nichts außer meinem Sperrbildschirm. Ein Bild vom Sonnenuntergang am Strand. Dieses Bild war bei unserm letzten Familienurlaub an der Ostsee entstanden. Der war jetzt auch schon über 5 Jahre her.
Ich atmete einmal tief ein, schüttelte leicht den Kopf, um die Erinnerung aus meinem Kopf zu vertreiben und legte dann mein Handy in meinen Schoß.
Fuck. Musste ich doch hier bleiben? Aber das hielt ich nicht aus. Panik kroch durch meine Adern und breitete sich wie ein Lauffeuer in meinem Körper aus.
"Viktor, ich weiß wir kennen uns kaum, aber vielleicht willst du ja trotzdem etwas los werden?" Oh stimmt Martha saß ja immer noch neben mir. Ich hatte sie total ausgeblendet als ich so in meiner Welt versunken war. "Sorry Martha, ich glaube nicht, dass gerade du die richtige dafür bist. Außerdem würdest du es eh nicht verstehen. Niemand tut es.", flüsterte ich den letzten Satz. "Du wirst es nur wissen, wenn du es versuchst. Vielleicht überrasche ich dich ja auch.", lächelte sie leicht. Automatisch zogen sich meine Mundwinkel ebenfalls ein wenig nach oben. Dann seufzte ich einmal laut und gab mich geschlagen. "Okay, alles klar. Dann pass genau auf.", warnte ich sie noch und dann fing ich an ihr alles zu erzählen.

Tills Sicht:

Meine Schuhe knirschten, als ich über den Schotter lief. Für mich hieß das, ich hatte noch 10 Minuten Laufweg vor mir, bis ich wieder am Internat ankommen würde. Also beschleunigte ich nochmal mein Tempo, denn ich wollte wieder auf mein Level kommen, welches ich vor meinem Unfall hatte. Kurze Zeit später fühlte ich wieder den festen Untergrund des Pflasters unter meinen Sohlen.
Ich lief den Bürgersteig entlang und sah im Augenwinkel zwei Menschen, die an der Mauer gelehnt saßen und sich unterhielten. Aber ich nahm sie nicht wirklich wahr, da ich beim Laufen immer einen Tunnelblick bekam und alles um mich herum ausblendete. Dann bog ich in die Einfahrt, die mich zum Internatshof führte. Dort angekommen blieb ich völlig fertig stehen und beugte mich erstmal vorne über, um nach Luft zu schnappen. Dann stützte ich meine zitternden Hände auf den Oberschenkel ab und versuchte meine Atmung wieder unter Kontrolle zubekommen. Wie ich dieses freie, taube Gefühl vermisst hatte. Automatisch zeichnete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ab. Mein Plan hatte funktioniert: Durch das Laufen konnte ich all diese komischen Gedanken aus meinem Kopf verbannen. Die Situation mit Viktor vorhin war schon merkwürdig, aber bestimmt war ich nur ein wenig durcheinander, weil ich es eben nicht gewohnt war, dass er so nett zu mir war bzw. Ich so eine Wirkung auf ihn hatte. Es schien so, als hätten wir die Seiten gewechselt.
Als ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte, ging ich in mein Zimmer um mir frische Sachen zuholen. Nach dem Lauf brauchte ich unbedingt eine frische Dusche.
Ich zog mich aus, drehte das Wasser auf und ließ das kalte Wasser auf meinen Körper prasseln. Eine leichte Gänsehaut überzog meine Haut und die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Aber nicht weil mir kalt war. Nein. Sondern, weil mir plötzlich wieder die Bilder von den Abend durch den Kopf schossen, an dem mich Viktor und seine Gang so erniedrigt hatten. Genau in diesem Waschraum, genau in dieser Duschkabine. Ich riss meine Augen auf, drehte schnell das Wasser ab und sprang aus der Kabine. Mit zitternden Händen ergriff ich das Handtuch vom Harken wickelte mich darin ein und rieb mir mit zitternden Händen übers Gesicht. Ich starrte auf die Duschkabine und sah alles genau vor mir. Aber nicht aus meinem Blickwinkel. Es schien so als würde ich die komplette Szene nochmal von außen betrachten. Ich sah was sie mit mir machten und ich sah den Schmerz und die Verzweiflung in meinen Augen. Es war so als würde ich mir selbst gegenüber stehen.
Schnell schüttelte ich den Kopf. Das war doch absurd. Langsam aber sicher wurde ich verrückt. Dann sah ich wieder auf und die Szene vor meinen Augen war verschwunden. So, als hätte es das alles nie gegeben.
Ich musste hier raus. Und zwar schnell. Also lief ich zurück in mein Zimmer, zog mir einen Pulli und eine Jogger aus dem Schrank und striff sie mir über. Als ich gerade den zweiten Arm im Pulli versenkt hatte, klopfte es an der Tür. Verwundert drehte ich mich zur Tür. "Herein?", fragte ich verwundert und starrte gespannt auf die Tür. Wer konnte das wohl sein?

Martha's Sicht:

Ganz durcheinander stolperte ich nun durch den Flur und suchte das Zimmer von Till. Immer wieder schossen mir die Worte von Viktor durch den Kopf. Durch seine Geschichte, die er mir da draußen offenbart hatte, sah ich ihn und seine Handlungen, plötzlich mit ganz anderen Augen. Er hatte es aus Verzweiflung getan und nicht aus Boshaftigkeit, wie ich anfangs dachte. Er war nur ein kaputter Junge auf der Suche nach Liebe, die ihn wieder reparieren würde.
Ich war echt geschockt darüber was bei ihm zu Hause abging. Er hatte doch immer so sehr bedtohnt wie reich sie waren und dass es bei ihnen sowas perfides wie Probleme nicht gab. Aber seine Story war ein weiteres Beispiel dafür, dass Geld nicht alles war. Mit Geld konnte man sich vieles leisten, aber nicht die Akzeptanz seiner Eltern. Das musste Viktor wohl schmerzhaft erfahren. Ich spürte, dass er so gar nicht wieder nach Hause wollte, aber trotzdem war sein Vater eben aufgetaucht und war mit ihm in diesem protzigen Audi davon gefahren. Sein Vater trug einen teuren Anzug, breite Uhr und sein Gesichtsausdruck war kühl und distanziert. Er schien mir eher wie ein knallharter Geschäftsmann und nicht wie ein Vater, der sich sonderlich um seinen Sohn scherrte.
Mittlerweile hatte ich Tills Zimmertür gefunden. Denn trotz all dem hatte ich nicht vergessen wieso ich mich eigentlich auf den Weg hierher gemacht hatte. Ich wollte nämlich mit Till reden.  Aber eigentlich wollte ich ihm ja vor Viktor warnen, doch war das jetzt noch nötig?  Ich bekam selber Zweifel daran, ob Viktor wirklich noch dieses Arschloch war. Wahrscheinlich war er in der Schule nur so zu mir, weil er seine Fassade aufrechterhalten wollte. Doch eben hatte er mir so tiefe Einblicke dahinter gewährt, sodass es für ihn von jetzt an nicht mehr nötig war, diese Spielchen zu spielen. Und angst hatte ich im gegenüber auch keine mehr. Also was wollte oder sollte ich Till dann jetzt erzählen? Vielleicht, dass Viktor weg war? Aber würde es ihn überhaupt interessieren? Wahrscheinlich wäre Till sogar froh darüber. Zu Recht.
Ich straffte meine Schultern, holte nochmal tief Luft und klopfte dann mit meiner Faust zaghaft gegen die Tür. Direkt kam ein dumpfes "Herein." Dann umklammerte ich die Klinke und stieß die Tür auf. "Hi Till.", lächelte ich etwas unsicher, da es irgendwie komisch war so plötzlich bei ihm im Zimmer zustehen. "Oh, hey Martha.", kam es ganz überrascht von ihm. Dabei zupfte er sich seinen Pullover zurecht. Unsicher standen wir uns gegenüber und wussten nicht so recht wer als erstes das Wort ergreifen sollte. Bis wir beide mit einem Laut anfangen wollten, doch direkt wieder verstummten. Dann lachten wir kurz auf, bis Till mir mit einer Handbewegung deutlich machte, dass ich anfangen sollte. "Till ich muss dir was sagen. Es geht um Viktor.", fing ich vorsichtig an. "Okay.", kam es alarmiert von ihm. "Du hast ja sicherlich gemerkt, dass ich heute morgen etwas außer der Spur war, richtig?"  Till nickte zur Bestätigung. "Naja, das lag an Viktor." "Was hat er dir angetan!", unterbrach er mich mit wütender Miene. "Nichts, also nichts schlimmes.", schob ich leise nach. "Also, ich..", und dann erzählte ich ihm alles. Dass ich Viktor ausversehen belauscht hatte, dass ich ihn dann darauf angesprochen hatte, und wie er mich dann letztendlich eingeschüchtert hatte. Aber ich erzählte ihm dann auch das Gespräch eben vor dem Internat. Wie ich ihn jetzt sah. Und was das Gespräch alles verändert hatte. Doch Till schien so gar nicht überrascht zu sein über das was ich ihm da gerade erzählt hatte. "Wusstest du etwa schon davon?!", platzte es dann aus mir heraus nachdem ich ihn eine Weile einfach nur gemustert hatte, um aus seinem Blick schlau zu werden.
"Ja, er hat es mir schon erzählt. Und auch dass er, naja, in mich verliebt ist.", sagte er dann etwas peinlich berührt. "Und was ist mit dir? Bist du auch in ihn verliebt?"

Bad LiarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt