Kapitel 10

168 4 0
                                    


Marthas Sicht:

Fröhlich sprang ich aus dem Auto und ging den Weg zum Schulgebäude entlang. Ich war bester Laune. Ich hätte nämlich gestern ausgiebig mit Leo über Skype gesprochen und wir konnten alles klären. Ja vielleicht schwebte ich auch wieder mehr auf Wolke 7 und hatte deswegen so gute Laune. Er war aber auch so süß und ich vermisste ihn nur noch mehr. Ich sah Till schon von Weitem und direkt dachte ich an Gestern zurück. Es war echt cool mit ihm zulaufen und wer weiß vielleicht würden wir ja sowas wie Kumpel werden. Mein Plan "Keine Freunde" hatte ich über Bord geworfen, denn alleine würde ich diesen Schulwahnsinn nicht überstehen. Also warum mich dann nicht mit meinem Sitznachbarn anfreunden?
"Guten Morgen Till. Na alles klar?", fragte ich ihn dann, als ich ihm am Eingang eingeholt hatte. "Morgen.", murmelte er abwesend und beschleunigte seinen Gang. Was war denn mit dem los? Gestern war doch noch alles gut zwischen uns. "Morgen Martha. Soll ich dich zum Klassenraum begleiten?", tauchte Viktor plötzlich neben mir auf. "Morgen. Ja okay.", sagte ich und so ging ich zusammen mit Viktor in die Klasse. Er war auch sehr nett. Ziemlich charmant, musste ich zugeben.
Ich ließ mich neben Till fallen und fragte ihn dann leise was denn los sei. "Nichts.", murmelte er dann nur und die Kälte in seiner Stimme ließ in mir das Blut gefrieren. Ich verstand es wirklich nicht. Schämte er sich etwa immer noch für seinen Zusammenbruch gestern und wollte mich deshalb jetzt auf Abstand halten? Aber das wäre doch totaler Blödsinn. Ich habe ihm doch gesagt, dass ich damit überhaupt kein Problem habe.
In der Pause versuchte ich es erneut. "Till wollen wir heute Nachmittag nochmal zusammen laufen gehen? Ich glaube wir wären gute Trainingspartner." "Lass mich bitte einfach in Ruhe okay?! Es ist nicht gut, wenn wir zusammen abhängen.", gab er wieder nur kalt von sich. Aber da war was in seinen Augen, ein Flackern, welches mir verriet, dass er sowas eigentlich nicht sagen wollte. Wurde er etwa dazu gezwungen? Vielleicht von der selben Person, die ihn auch so übel zugerichtet hatte? Aber wer machte denn sowas?! Außerdem was hatte die Person bitte davon ihm den Kontakt mit mir, der Neuen, zuverbieten? Ich checkte echt gar nichts mehr. "Okay. Schade.", sagte ich leise und ging dann wieder rein und überlegte fieberhaft, wer ihm all den Scheiß antat. Leider kannte ich die Schüler dafür noch nicht gut genug, dass ich sowas jemanden zutrauen würde. Doch dann fiel mir die merkwürdige Szene zwischen Till und Viktor von Gestern auf dem Schulhof wieder ein. Mein Kopf drehte sich automatisch zu Viktor. War er echt zu sowas in der Lage?
"Martha?", riss mich Frau Levin's Stimme aus meinen Gedanken und mein Kopf schnellte nach vorne. "Ääh.", stotterte ich, weil ich ihre Frage über die Evolution natürlich nicht mitbekommen hatte. "Ich hätte gerne Darwins Evolutionstheorie von dir gehört." "Ähm ja. Also survival of the fittest. Was heißen soll: Das am besten an seine Umgebung angepasste Lebewesen überlebt.", brachte ich stotternd hervor. "Geht doch.", sagte Frau Levin dann lächelnd und nahm den nächsten Schüler dran. Erleichtert atmete ich aus. Man ich musste mich echt auf die Schule konzentrieren. Ich durfte nicht zulassen, dass mir hier irgendein Drama meinen Einserschnitt versaute.

Tills Sicht:

Es kostete mich meine ganze Kraft so fies zu Martha zu sein, aber Viktors Blicke erinnerten mich immer wieder daran, was mir blühte wenn ich mich nicht daran halten würde. Ich fühlte mich so machtlos. So hilflos. So alleine. Ich konnte mich weder jemanden anvertrauen, noch konnte ich mich alleine zur Wehr setzen. Das ging einfach nicht. Dazu fehlte mir die Kraft und ja, vielleicht auch ein bisschen der Mut. Aber was sollte ich auch alleine gegen Viktor anrichten können. Er hatte immer noch die anderen Mitschüler hinter sich. Aber ich? Hinter mir stand niemand.
Heute hatten wir Staffeltraining und ich hatte wirklich keine Lust darauf. Unmotiviert kam ich am Stadion an. "Da ist ja unser Außnahmetalent.", strahlte Herr Hauser und hielt mir seine Hand hin in die ich dann auch einschlug. Ich lächelte nur müde. Er war stolz auf mich, das wusste ich, aber mit solchen Sprüchen machte er es für mich nur noch schlimmer. Die anderen würden sich nämlich später im Internat nur wieder darüber lustig machen. Und Viktors Blick zuurteilen, würde er mich am liebsten hier und jetzt dafür verprügeln. Aber ich konnte doch auch nichts dafür. Und extra langsamer laufen und ihn gewinnen lassen, war für mich keine Option. Dafür war ich zu ergeizig. Die Siege waren das Einzige was mir wenigstens ein bisschen Bestätigung gaben, in dem was ich tat. Sie zeigten mir, dass ich nicht doch ein totaler Versager war. Die Siege bedeuteten mir alles, auch wenn ich dafür noch mehr Mobbingattacken ertragen musste. Dieses Glücksgefühl nach einem Sieg, war so berauschend. Es machte süchtig und ich würde wohl nie genug davon bekommen. In diesen Momenten vergaß ich alles um mich herum. Und ich konnte für einen Bruchteil einer Sekunde sowas wie Stolz in mir fühlen. Diese Siege nahm mir niemand weg. Es waren ganz alleine meine. Meine persönlichen Schätze.

Marthas Sicht:

Till tat mir einfach nur unendlich leid. Ich wollte ihm so gerne helfen, aber wusste einfach nicht wie.
Zu Hause allerdings hatte ich gar keine Zeit mir weiter Gedanken um ihn zu machen, da ich mitten in einen Streit von meiner Mutter und meinen Vater hineinplatzte.
"Wir müssen es ihr langsam mal sagen. Oder willst du sie weiter anlügen?!", rief meine Mutter wütend. "Nein, Susanne. Wir sagen es ihr nicht. Sie wäre am Boden zerstört!", entgegnete mein Vater. Als ich das Wohnzimmer betrat verstummten sie sofort. "Was wollt ihr wem sagen?", fragte ich verwirrt und hatte das ungute Gefühl es würde um mich gehen. "Oh, Hallo mein Schatz.", lächelte meine Mutter und nahm mich in den Arm. Irgendwas war hier gewaltig faul. Alleine weil mein Vater schon so früh zu Hause war. "Alles gut. Mach dir keine Sorgen.", sagte mein Vater und auch er lächelte mich beschwichtigend an. "Ich will jetzt sofort wissen was los ist.", sagte ich bestimmt und verschränkte demonstrativ die Arme vor meiner Brust.
Direkt warfen die beiden sich stumme Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Dann seufzte meine Mutter und ließ sich aufs Sofa fallen. Dann klopfte sie links neben sich und sagte: "Komm her. Ich glaube der Papa und ich müssen dir einiges erklären." Ich zögerte zwar kurz, ließ mich aber dann doch neben sie nieder. Nun schaute sie hilfesuchend zu meinem Vater, aber der zuckte nur stumm mit den Schultern. "Also Martha.", fing sie an. "Du musst uns jetzt ganz aufmerksam zuhören, aber bitte vergiss nicht, dass wir dich sehr lieb haben. Egal was wir dir jetzt erzählen werden okay?" Ihre Worte verwirrten mich nur noch mehr, weswegen ich einfach nur stumm da saß und darauf wartete, bis sie fortfuhr. Was sie dann nach weiteren Sekunden, der Stille auch tat. "Wir, also der Papa und ich, wir. Wir sind nicht deine leiblichen Eltern. Du wurdest als Baby adoptiert." Direkt schaute ich zu Papa, um herauszufinden ob es nur ein blöder Scherz war, aber auch er verzog keine Miene. Also war das ihr ernst?! "Was?", flüsterte ich total verwirrt. Das war doch. Das konnte doch nicht sein.
Ich war mit der Situation komplett überfordert und musste jetzt raus. Ich rannte hoch in mein Zimmer, zog mir meine Laufsachen an und stürmte aus der Haustür raus. Einfach weg von meinem Zu Hause. War es jetzt überhaupt noch mein zu Hause? Die Gedanken in meinem Kopf drehten sich, wie ein Karussell und sie wurden immer schneller und absurder, sodass ich nur noch schneller lief. Ich wollte vor meinen eigenen Gedanken weglaufen, aber sie waren in meinem Kopf, also konnte ich ihnen nicht entkommen. Egal wie schnell meine Füße sich bewegten. Ich rannte und rannte und ich hatte komplett die Orientierung verloren. Ich lief an einem Stadion vorbei und kurz danach musste ich stehen bleiben. Weder meine Beine, noch meine Lunge waren fähig noch mehr Belastung zuertragen. Ich war ausgelaugt und ließ mich erschöpft auf dem Bordstein nieder. Dann legte ich mich auf den Rücken, streckte die Arme über meinen Kopf und versuchte mich zu beruhigen, aber es funktionierte nicht. Ich war adoptiert. Sie waren nicht meine richtigen Eltern. Bestimmt liebten sie mich gar nicht. Ich war kurz vorm Durchdrehen. Meine perfekte, heile Welt, war binnen von Sekunden wie ein Kartenhaus vor meinen Augen zusammen gefallen.

Bad LiarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt