Kap. 3

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Montag, 07. Dezember 2020

Je mehr ich darüber nachdachte, desto aufgeregter wurde ich. Mit geschlossenen Augen lehnte ich am Küchentresen und wartete, atmete ein und aus und versuchte, mein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Dabei hätte ich nicht geschockter sein können, wie aufgeweckt ich mich auf einmal fühlte.

Langsam öffneten sich meine Lider und ich blickte direkt auf die Granitspüle in meiner Küche. Ich musste wohl schon seit einer halben Stunde hier stehen, dabei hatte ich viel länger als sonst gebraucht, um mich an diesem Morgen fertig zu machen. Als ich aufgestanden war, war ich meiner gewöhnlichen Routine nachgegangen: Duschen, Anziehen, Schminken. Dann, mitten beim Anziehen hatte ich angefangen, über meine Kleiderwahl nachzudenken, hatte mich im Spiegel betrachtet. Auf einmal, nach so langer Zeit, machte ich mir Sorgen um mein Aussehen. Natürlich hatte ich das letzte Jahr über trotzdem auf ein gepflegtes Äußeres geachtet, aber es hatte mich nichts mehr daran gereizt, mich schick anzuziehen, aufwendig zu schminken oder auch nur einen zweiten Hintergedanken an mein Outfit zu verschwenden. Praktisch sollte die Kleidung sein, für die Schule, nichts weiter.

An diesem Morgen aber plagten mich Zweifel. Sah ich in Jeans und T-Shirt wirklich gut aus? Früher hatte ich doch auch immer mehr Kreativität genutzt, um perfekte Outfits zusammenzustellen. Schlussendlich hatte das dazu geführt, dass ich mich mindestens sechs Mal umgezogen und meinen gesamten Kleiderschrank ausgeräumt hatte. Jetzt stand ich zwar schon seit Längerem in der Küche, dachte aber trotzdem über mein Aussehen nach. Was würde er wohl dazu sagen, wie würde er reagieren? Vor allem, nachdem wir gestern so ein heikles Thema angeschnitten hatten. Noch immer plagte mich das schlechte Gewissen wegen meiner Entscheidung, doch darüber fing ich lieber erst gar nicht an, nachzudenken. Denn sonst würde ich wohl kaum in absehbarer Zukunft wieder damit aufhören können.

Als ich sein Auto in der Auffahrt vorfahren sah, zuckte ich erschrocken zusammen. Panik schnürte mir die Luft ab, als ich schnell meinen unberührten Kaffee in den Abfluss schüttete und die Tasse in die Spülmaschine stellte. Fast schon hilflos sah ich mich in der makellosen Küche um, entdeckte meine Tasche auf dem Tisch und verschwand damit im Flur, bevor ich noch anfangen würde, mir irgendeine Zeit schindende Beschäftigung zu suchen. Im hohen Wandspiegel betrachtete ich mich ein weiteres Mal. Dank jahrelang trainiertem Geschick hatte ich es geschafft, ein Outfit zusammenzustellen, dass die offensichtlich fehlenden Kilos kaschierte. Das weiß-schwarze Kleid mit kurzen Ärmeln hing sportlich locker an meinem Körper, zeigte weder die fehlenden Kurven, noch meine hervorstechenden Knochen. Mit langen schwarzen Stiefeln, die bis über die Knie gingen und schwarzen Strumpfhosen hatte ich meine blasse Haut gekonnt versteckt und den Eindruck erschaffen, ich hätte einfach nur lange, schlanke Beine, nicht abgemagerte. Dabei war mir schmerzlich bewusst geworden, wie fest ich die Schleife hinten binden musste, damit die Stiefel nicht rutschten.

Passend zu meinem eher lässigen Look hatte ich meine Haare zu einem lockeren Knoten geschlungen, aus dem sich jetzt schon mehrere Strähnen gelöst hatten und locker mein Gesicht umspielten. Wie immer hatte ich Make-up zu meinem Vorteil genutzt, die dunklen Augenringe kaschiert, meine Blässe überschminkt und mir rosige Wangen verpasst. Ich sah tausendmal besser aus, als ich mich in letzter Zeit gefühlt hatte.

Als es klingelte, wandte ich mich etwas entspannter zur Tür. Mein Aussehen so zu analysieren hatte mir geholfen, mich zu beruhigen. Ich hatte nichts Negatives daran feststellen können, außer, dass es vielleicht zu ungewohnt war nach all der Zeit. Doch jetzt war es viel zu spät, um daran noch etwas zu ändern. Mit einem etwas unsicheren Lächeln öffnete ich die Tür und traf Jimins Blick, der mir sofort durch Mark und Bein ging. Nach meiner getroffenen Entscheidung am vorherigen Abend hatte es für ihn keinerlei Sinn mehr, seine wahren Gefühle für mich zu verbergen. Seine Augen strahlten eine solche Wärme und Zuneigung aus, dass sich mein schlechtes Gewissen lautstark meldete. Doch leider schon geübt verdrängte ich negative Gedanken und Gefühle und ließ zu, dass Jimin mir einen Kuss auf die Lippen drückte. Ich war dankbar, dass er es dabei beließ und mich nicht unter Druck setzte, sondern mir erlaubte, das Tempo selber festzulegen.

My best friend's sister - m.yg.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt