50. Kapitel - Heldentum

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Darauf bedacht kein Geräusch zu machen, zog Mark leise die Tür hinter sich zu. Es war später geworden als gedacht.
In der Küche brannte Licht. Mist! Er biss sich auf die Lippe. Eigentlich hatte er gehofft ungesehen in die enge Dachkammer schlüpfen zu können, die ihm als Schlafzimmer diente.
"Mark?" Die müde Stimme seiner Mutter hallte schwach im engen Hausflur wieder.
Er drückte sich mit dem Rücken flach an die Tür und atmete tief durch. Er wusste nicht, was er seinen Eltern erzählen würde, wenn sie fragten, wo er so lange geblieben war.
Er hörte schwere Schritte hastig näherkommen. Licht flammte auf. Geblendet kniff er die Augen zusammen.
Dann spürte er die weichen Arme seiner Mutter umsich. "Wo warst du denn die ganze Zeit?" murmelte sie leise und drückte sich fest an seine Brust. "Herrgott, du bist ja ganz kalt."
Peinlich berührt blickte Mark zur Seite und suchte fieberhaft nach einer Antwort, die seinen Eltern im Idealfall weniger Sorgen bereiten würde als die Wahrheit.
"War es dieses Mädchen, mit dem du dich heute Mittag während der Championvorstellung rausgeschlichen hast?" brummte sein Vater und betrachtete die Szenerie mit konzentriert zusammengezogenen Augenbrauen.
Verwirrt starrte Mark ihn an. "Nein. Ich... also ... mir war nach der Arbeit einfach nach etwas frischer Luft."
Seine Mutter löste sich von ihm und sah ihn durchdringend an.
"Wenn du wirklich bei einem Mädchen warst, dann ist das nichts, wofür du dich schämen musst."
Mark spürte, wie ihm das Blut immer mehr ins Gesicht stieg je länger die Stille andauerte. Er wusste selbst, wie wenig überzeugend seine Antwort klang. Manchmal wünschte er sich, er würde zu denjenigen Leuten gehören, die scheinbar in jeder Situation eine passende Antwort parat hatten. So wie Mia ab und an.
"Ich war wirklich nur spazieren," murmelte er kleinlaut und wurde dabei immer leiser.
Seine Mutter legte den Kopf erneut an seinen Pulli und sog beherzt die Luft ein. Dann warf sie seinem Vater einen langen Blick zu. "Er riecht nach Flieder."
Unwillkürlich musste Mark an Larissas Zimmer zurückdenken. Die lilane Bettdecke mit dem aufwändig verschlungenen Blumenmuster, auf der er seine Kleidung abgelegt hatte. War das der Grund für den Fliedergeruch?
"Weißt du Mark," setzt sein Vater an, "es wird langsam Zeit, dass du deine eigene Familie gründest. Du bist inzwischen mehr als alt genug. Es wäre nur schön, wenn uns nächstes Mal sagen könntest was Sache ist, anstatt einfach wegzugehen."
"Du kannst sie übrigens auch gerne mal mitbringen," fügte seine Mutter rasch hinzu.
Für einige Herzschläge herrschte erwartungsvolle Stille.
Mark schüttelte erneut den Kopf, völlig überfordert mit der Situation.
"Ich gehe jetzt schlafen," sagte er laut und drängt sich mit hochrotem Kopf zwischen seinen Eltern hindurch.
Oben angekommen, ließ er sich kraftlos auf seine Matratze sinken. Doch der Schlaf wollte und wollte nicht kommen.
Er glaubte, seine Eltern von unten leise reden zu hören. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass er morgen früh zur Arbeit musste. Auf diese Weise konnte er ihnen bis zum Mittag aus dem Weg gehen. Ein Spaziergang... wie hatte er nur so doof sein können. Vermutlich hätten seine Eltern ihm ein spontanes Treffen mit Patrik, Wilhelm und den anderen Kumpels von der Arbeit viel eher abgekauft. In Gedanken versunken schüttelte er kaum merklich den Kopf, frustriert über seine eigene Einfallslosigkeit. Jetzt hatten seine Eltern sich an der Geschichte mit der Freundin festgebissen, von der er wusste, dass sie sie nur allzu gerne wahr gehabt hätten. Sie hatten beide jung geheiratet und auch wenn sie es zuvor noch nie so offen ausgesprochen hatten, nagte schon länger die Vermutung an ihm, dass seine Eltern eigentlich schon längst mit seiner Heirat geplant hatten.
Er dachte an Zaarah und die Rebellen zurück während er sich auf der etwas durchgelegenen Matratze von Links nach Rechts wälzte. Nur um sich wenige Minuten später wieder zurück zu drehen.
Irgendwie konnte er keine bequeme Position zum Schlafen finden. Außerdem war ihm immer noch kalt. In seinem Hinterkopf blitze immer wieder das Gefühl unbestimmter Angst auf. Vor wenigen Stunden hatte man ihn auf einen Stuhl gefesselt und gedroht, ihn umzubringen, sollte er nicht verraten, was er im Farmerviertel gewollt hatte.
Sein Kopf war die ganze Zeit über wie leergefegt gewesen. Irgendwann hatte er widerwillig etwas von dem Päckchen mit dem weißen Zeug erzählt, dass er von Leonardo bekommen hatte. Er war der festen Überzeugung gewesen, in den Händen einer jener Banden gelandet zu sein, mit denen Leonardo Gerüchten zufolge seit Jahren im Untergrund schwelende Machtkämpfe austrug. Sie waren zum Teil bekannt dafür, Leute von der Straße zu entführen und für ihre Zwecke einzuspannen.
Zu seiner Überraschung hatten sich Günther und die Leute, die ihn erst entführt und dann in einem dampfigen Raum an einen Stuhl gefesselt hatten, jedoch als verbündete Rebellengruppe herausgestellt. Wie er später erfahren hatte, enthielt der Zettel, den er überbringen sollte, eigentlich keine wirkliche Information, sondern hatte lediglich dazu gedient, seine Hartnäckigkeit und Vertrauenswürdigkeit im Schnellverfahren zu prüfen.
Anscheinend war es in regierungskritischen Kreisen üblich, dass neue Mitglieder sich erst wochenlang in scheinbar sinnlosen und unwichtigen Aufgaben beweisen mussten, bevor man ihnen genug vertraute, um sie in die größeren Zusammenhänge einzuweihen. In seinem Fall jedoch hatte Zaarah als Mitglied des engsten Kreises einen Antrag auf Eil-Aufnahme gestellt.
Vermutlich wegen Mia.
Der Gedanke versetzte ihm einen Stich und er schielte, ohne es zu wollen, in die gegenüberliegende Ecke der schmalen Kammer zurück, wo sie bis vor ein paar Tagen noch geschlafen hatte. Hoffentlich ging es ihr gut.

Er drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Wenn er tief einatmete, spürte er ein leichtes Ziehen in der rechten Seite.
Er konnte nicht genau sagen, ob es eine Erinnerung an den etwas aggressiven Türsteher des Bordells oder an seine missglückte Flucht vor Günther war.
Letzterer hatte sich am Ende immerhin bei ihm entschuldigt und seine aufrichtige Bewunderung dafür ausgedrückt, dass er so vehement und überzeugend bei der Geschichte mit der Bande und dem weißen Pulver geblieben war. Besonders die Stelle, wo er scheinbar völlig verzweifelt behauptet hatte, das Pulver nicht mehr bei sich zu haben, weil er es an eine Prostituierte verloren habe, hatte ihn schwer beeindruckt. Ebenso wie seine glorreiche Flucht aus dem Gefängnis.
Bei dem Gedanken daran, zog Mark die Decke enger umsich und kuschelte sich tiefer in sein Bett. Er fühlte sich kein Bisschen wie ein Held.
Er war weder aus dem Gefängnis ausgebrochen noch hatte er irgendeine Geschichte erfunden, um glaubhaft zu versichern, dass er nichts mit den Rebellen am Hut hatte. Es war einfach die Wahrheit gewesen. Und hätte er gewusst, dass seine Entführer nicht auf die Geschichte mit Leonardo, sondern den Zettel von Zaarah hinaus wollten, hätte er ohne Zweifel alles verraten.
Eigentlich hatte er es gar nicht verdient, in den engeren Kreis der Rebellen aufgenommen zu werden.
Zumal er im Grunde gar nicht in regierungskritische Aktionen verwickelt werden wollte.

Schweißgebadet schreckte er auf. Dunkelheit umfing ihn.
Er brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass alles nur ein Traum gewesen war.
Der letzte Satz, den der kleine Junge heute Abend im Farmerviertel zu ihm gesagt hatte, kurz bevor man ihm die Augenbinde abnahm, klang noch in seinen Ohren nach.
Es ist keine Schande, aufzugeben. Nicht jeder ist geschaffen für diese Art die Welt zu verändern.
Im Traum war es seine Mutter gewesen, die ihm diese Worte ins Ohr geflüstert hatte.
Vorsichtig drehte er sich im Bett um. Etwas, das er sich schon vor langer Zeit angewöhnt hatte, um seine kleine Schwester nicht zu wecken. Im schwachen Licht der Straßenlaterne konnte er gerade noch die fahlen Umrisse ihrer Decken in der Ecke ausmachen. Er hatte es noch nicht über sich gebracht, sie zu versorgen.
Er vermisste ihre Versuche, ihn nach der Arbeit etwas aufzumuntern und zu einem kleinen Spaziergang oder ein paar Runden Kartenspiel zu überreden. Etwas, wozu ihm alleine die Motivation gefehlt hätte.
Eigentlich war sie eine seiner besten Freunde gewesen. Wenn dann hätte er an ihrer Stelle gehen sollen.
Mit einem leisen Seufzen ließ er den Kopf in die Kissen zurück sinken und zog die Nase hoch. Sein Hals kratzte auf unangenehme Art und Weise. Hoffentlich wurde er nicht krank.
Aber egal, ob er dafür geschaffen war oder nicht, wenn die Rebellen seine einzige Möglichkeit waren, Mia vielleicht zu befreien, dann würde er sie nutzen.

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt