3. Kapitel

146 28 20
                                    

Der Versammlungsraum war brechend voll. Nichtsdestotrotz hing eine angespannte Stille im Raum, die ihresgleichen suchte. Kein Lachen, kein Tuscheln, kein Husten. Stattdessen blickte ein jeder angstvoll nach vorne zum Podium, auf dem der Schulleiter inzwischen Stellung bezogen hatte.
Ob an den Gerüchten wohl doch etwas Wahres dran war?
Der Schulleiter räusperte sich. Das Geräusch hallte unnatürlich laut von den Wänden wieder.

"Liebe Lehrer und Lehrerinnen,
Liebe Schüler und Schülerinnen,

Wie sie alle sicherlich wissen kursieren schon seit geraumer Zeit diverse Gerüchte."

Er machte eine längere Künstlerpause, um die Spannung noch ein wenig zu steigern. Nicht, dass das nötig gewesen wäre.

"Ich befinde mich unglücklicherweise in der Pflicht ihnen mitteilen zu müssen, dass es mehr als nur Gerüchte sind. Dass diese Gerüchte wahr sind."

Einige der Schüler schnappten geräuschvoll nach Luft während andere nur ungläubig vor sich hinstarrten. Ganz hinten bei den jüngeren Schülern fing sogar jemand an zu weinen.

"Ja, es stimmt. Sie haben richtig gehört, der König ist tot."

Kaum dass der Schulleiter zu Ende gesprochen hatte, erhobenen sich auch schon erste Proteste. "Das ist ein Scherz", flüsterte jemand zu meiner Linken. Ich hätte ihm nur zu gerne geglaubt. Aber ich wusste, dass dem nicht so war. Und ich denke, ganz tief in seinem Herzen, da wusste er es auch.
Zaarah griff nach meiner Hand und drückte sie. Ich drückte sanft zurück.
Hinter uns, bei den jüngeren Schülern, war Tumult ausgebrochen. Wer konnte es ihnen schon verdenken?
Nur um mit etwaigen Missverständnissen aufzuräumen; hier trauerte niemand ernsthaft um den toten König. Es war vielmehr so, dass wir alle schreckliche Angst hatten. Angst um unser Leben und das all jener die uns nahestanden.

"Des Weiteren bin ich ebenso in der Pflicht euch über die Hintergründe und Konsequenzen dieser überaus bedauerlichen Nachricht zu informieren, auch wenn ihr vermutlich schon längst darüber Bescheid wisst.
Es dürfte euch bekannt sein, dass es in unserem Königreich zehn bedeutende Städte gibt, die von den zehn bedeutendsten Adelsfamilien regiert werden. Sie verwalten dieses Reich und sorgen dafür, dass der Wille des Königs ausgeführt wird. Jede dieser zehn Adelsfamilien hat sich einer der zehn Gottheiten verschrieben und ihre Stadt dieser Gottheit geweiht.
Unsere Stadt ist der Rabengöttin geweiht, die Stadt des Wolfes ist dem Wolfsgott und die Stadt des Skorpions dem- "

Ich hörte nur noch mit einem Ohr zu. Über die zehn Städte wusste ich mehr als genug. Jedes Kind hier wusste mehr als genug. Seit der ersten Klasse hatten wir dieses Thema immer und immer wieder durchgekaut. Hatten alles gelernt über die zehn Städte, die im ständigen Wettstreit miteinander lagen und ihre jeweiligen Gottheiten. Wobei, genau genommen waren es bloß die Adelsfamilien, die sich ständig gegenseitig übertrumpfen wollten. Und uns Bürgern blieb nichts anderes übrig als die Folgen dieser Kleingeisterei auszubaden. Denn wer will schon der Zorn der Götter auf sich ziehen?
Denn genau das sind sie, diese Adeligen. Oder zumindest fast. Die Adelsfamilie unserer Stadt, die Rabenkinder, behaupten jedenfalls alle steif und fest, göttliches Blut in den Adern zu haben. Deshalb heißen sie auch alle irgendwas mit Rabe: Rabenschwinge, Rabenfeder, Rabenmond, ...
Dieses göttliche Blut ist es, was alle zehn Adelshäuser trotz ihrer immerwährenden Zwistigkeiten miteinander vereint.
Nur durch diese übernatürliche Abstammung ist es ihnen gestattet alle zwanzig Jahre einen neuen Anwärter auf den Thron zu stellen. Denn jeder König herrscht nur maximal zwanzig Jahre, dann wird er abgesetzt und ein neuer König kommt an die Macht. So soll sichergestellt werden, dass das Reich auch dann noch kompetent regiert wird, wenn die Last der Jahre ihre Spuren auf der Seele des Königs hinterlässt und er vielleicht nicht mehr der ist, der einst für am fähigsten befunden wurde, die Geschicke der Welt in seiner Hand zu halten.
Maximal zwanzig Jahre deshalb, weil viele Könige früher sterben. Durch einen Unfall, an einer schweren Krankheit oder an einem Attentat. Meistens ist jedoch letzteres der Fall.
Der letzte König hatte sich erstaunlich lange halten können.

Der Schulleiter schien die Aufzählung aller Städte, ihrer Adelsfamilien und Gottheiten inzwischen beendet zu haben. Endlich.

"Wann immer ein neuer König erforderlich ist, wird jeder der zehn Adelsdynastien die Ehre zuteil, einen der ihrigen als Anwärter auf den Thron zu bestimmen. Das macht insgesamt zehn Anwärter auf einen Thron.
In früheren Zeiten wurde dieses Problem dadurch gelöst, dass alle Anwärter in einer Art Wettlauf gegen einander antraten. König wurde, wer sich als erster mit der am Ziel versteckten Krone krönte. Mit den Jahren wurde dieses Rennen immer anspruchsvoller.
Denn ein guter König zeichnet sich schließlich nicht nur dadurch aus, dass er laufen kann wie ein Hase. Damit auch die anderen Ansprüche an einen Herrscher ausreichend abgedeckt sind, erfand man die kreativsten Hindernisse. Sie sollten sozusagen die Eignung des jeweiligen Teilnehmers für den Thron aufzeigen und über sein weiteres Schicksal entscheiden."

Was er eigentlich sagen wollte war, dass von den zehn Throhnanwärtern, die mit viel Tamtam zum Wettlauf loszogen, immer nur einer offiziell zurückkehrte. Was mit den anderen geschah, das hat mir nie jemand gesagt. Ich glaube auch nicht, dass es überhaupt irgendjemand weiß, mit Ausnahme der Adeligen vielleicht. Dieser Wettlauf ist allgemein ein sehr mysteriöses Ereignis.
Darüber wieso er veranstaltet wird, wie die religiöse Zeremonie zur Beginn abläuft oder darüber welch enorme Bedeutung der Rabenflug für die Bürger dieser Stadt hat, könnte ich Bücher schreiben. Doch alles was ich über den anschließenden Wettlauf weiß, ist was der Direktor gerade gesagt hat.
Aber natürlich gibt es massenweise Gerüchte darüber. Man munkelt von schrecklichen Monstern, die die Teilnehmer jagen und von versteckten Minen und anderen Fallen auf dem Weg. Hinter vorgehaltener Hand war sogar manchmal von Kannibalismus die Rede.
Wenn ihr mich fragt ist das alles hanebüchener Unsinn, der nur erzählt wird, um kleine Kinder zu erschrecken, damit sie keine unangenehmen Fragen mehr stellten. Ich kann mir nicht vorstellen, was für königliche Qualitäten mit derlei Aufgaben geprüft werden sollten.
Trotzdem hinterließ jede dieser Geschichten ein ungutes Gefühl in mir.
Allerdings heißt es sogar offiziell, dass bei dem Wettlauf schon Leute gestorben sind.
Was das mit uns einfachen Bürgern zu tun hat?
Nun, sagen wir mal so, inzwischen ist schon lange kein Adeliger mehr gewillt sein eigenes Leben oder das seines Verwandten für die Krone zu riskieren. Stattdessen feiern sie eine religiöse Zeremonie, in der Vertreter aus dem Volk bestimmt werden, die sogenannten Champions. Vertreter, die an ihrer Stelle rennen, an ihrer Stelle kämpfen, für sie siegen oder aber ganz einfach an ihrer Stelle sterben, wenn es dumm läuft.
In unserer Stadt wird diese Zeremonie zur Bestimmung der Champions "Flug der Raben" oder auch einfach nur "Rabenflug" genannt und ist das wichtigste religiöse Ereignis überhaupt.

"Aufgrund des vorzeitigen und überaus bedauerlichen Todes unseres heiligen Königs des Löwen, Mund des Gottes und Herrscher der Welt, findet der Flug der Raben nicht erst in vier Jahren statt, wie es regulär geplant war. Nein, wir brauchen wieder einen neuen Herrscher. Brauchen jemanden, der mit den Göttern Zwiesprache hält und uns ihren Willen verkündet!
Darum freut es mich auch außerordentlich ihnen mitteilen zu dürfen, dass der nächste Rabenflug schon Morgen stattfinden wird. Dann, wenn Sonne und Mond den Horizont küssen, die eine untergeht in ihren Blute und der andere in ungeahnte Höhen aufsteigt.
Bitte findet euch pünktlich zur Abendstunde auf dem großen Platz vor dem Tempel ein.
Ich wünsche euch allen ein frohes Fest! "

Uns war allerdings kein bisschen nach feiern zu mute. Der Direktor hatte ja gut reden, er selbst war schon viel zu alt um als Champion in Frage zu kommen. Die Adeligen, äh, die Götter wählten stehts nur junge Leute aus. Leute in meinem Alter. Mit Alten wäre die Chance die Krone zu gewinnen schließlich zu gering.
Die großen Torflügel wurden geöffnet und die Schüler strömten fluchtartig hinaus.
Ich fragte mich unwillkürlich, wer von ihnen Übermorgen nicht mehr bei uns sein würde.

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt