5. Kapitel

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Erst das Schrillen der Glocke des großen Rabentempels erlöste mich von meinen nervtötenden Pflichten als Kindermädchen. Es kündigte all den müden Arbeitern, den Näherinnen und Farbriksburschen, den Bauarbeitern und niederen Dienern, das Ende ihres langen Arbeitstages an.
Und so quollen sie aus allen Ecken und Enden, ihr rhythmisches Schlurfen erfüllte Straßen der Stadt, die einen Teil von ihnen auch an unserer bescheidenen Wohnung vorbeiführten. Sie kamen, müde und erschöpft, mit Dreck unter den Fingernägeln. Kamen um ihre Kinder zu holen und ich gab sie ihnen nur zu gerne.
Es dauerte kaum eine halbe Stunde bis sie alle wieder abgegeben waren. Alle bis auf einen; meinen kleinen Bruder Benjamin-Berthold. Ihr ahnt es vermutlich bereits, meine Eltern haben unerklärlicherweise ein Faible für Doppelnamen.

Es dauerte nicht lange bis auch mein Vater und mein älterer Bruder, Mark-Marvolo, zu Tode erschöpft von der Arbeit in der Fabrik zurückkehrten. Wie immer, gingen sie alle beide leicht gebückt und waren ganz dreckig. Ihre Augenringe schienen mit jedem Mal, das sie heimkehrten, größer und dunkler zu werden.
Ich hatte immer noch Mühe in dem jetzigen Mark den liebevollen großen Bruder wiederzuerkennen, der er früher für mich gewesen war. Damals, bevor er anfing in der Fabrik zu schuften, war er immer guter Dinge gewesen und nichts hatte diesen Optimismus trüben können. Wenn ich traurig war bin ich deshalb immer zu ihm gekommen und er hatte mich dann in den Arm genommen und getröstet. Er hatte immer Zeit für mich gehabt und nahm meine Sorgen und Ängste ernst.
Nachmittagelang hatten wir zusammen gespielt. Dabei war es stets Mark gewesen, der die wirklich lustigen Ideen hatte. Meine Mutter fand sie in der Regel allerdings nicht ganz so lustig wie wir. Aus heutiger Sicht kann ich sie sogar verstehen. Ich meine welche Mutter hört schon gerne, dass ihre Kinder sich heimlich ins Reichenviertel geschlichen haben? Oder, dass sie beim Schlittern über eine halb zugefrorene Riesenpfütze beinahe eingebrochen wären? Oder, dass sie einen ganzen Tag und die halbe Nacht verschwunden waren, während die Stadtwache vor der Tür stand und behauptete ihre Kinder hätten Orangen geklaut.
An seiner Seite war es so leicht gewesen glücklich zu sein. Ich frage mich bis heute wo der fröhliche kleine Junge von damals geblieben ist.
Vermutlich musste er Platz machen für den großen, kräftigen Mann, der alles widerstandslos abnickt und tut was man ihm sagt.
Wenn ich ehrlich bin, dann hatte ich Angst, eines Tages auch so zu werden.

"Die Näherei ist nicht gut für die Menschen hier, nicht gut, und die Fabrik ist noch viel schlimmer!", hatte meine Großtante früher immer zu mir gesagt, wenn sie auf mich aufgepasst hatte. Sie war damals schon sehr alt gewesen und ich wollte ihr nicht so recht glauben, weil sie immer sehr viel Unsinn erzählt hatte. Aber inzwischen bin ich mir sicher, dass sie Recht hatte.

Wortlos hängten Vater und Bruder ihre Mäntel an den Nagel in der Wand. Dann ließen sie sich auf die Bank vor dem Esstisch sinken.
Mein Vater gähnte lange und ausgiebig, während Mark, den Kopf auf beide Hände gestützt, so aussah als wolle er jeden Moment einschlafen.
Wortlos schleppte meine Mutter den großen Suppentopf heran und klatschte jedem eine große Schöpfkelle voller dampfender Kohlsuppe auf den Teller.
Einige Mehlwürmer schwammen in dem graugrünen Matsch und drehten sich langsam als ich den Löffel lustlos hineintauchte. Als ich umrührte stiegen Dampfschwaden auf und der Geruch der Suppe wurde nur stärker. Ich legte den wieder Löffel beiseite.
Schon allein vom Geruch wurde mir übel.
Eine Weile lang war nichts zu höheren außer dem Klappern der Löffel und den gierigen Essgeräuschen von Eltern und meinem großen Bruder.
Mein kleiner Bruder stocherte mit finsterer Miene in seinem Essen herum und brabbelte leise vor sich hin. Anscheinend schien er genauso viel vom Essen zu halten wie ich.
Noch bevor ich mich überwinden konnte auch nur einen Bissen zu mir zu nehmen, hatte Mark seine Portion schon verschlungen und kratzte geräuschvoll seinen Teller aus. Es war mir ein Rätsel wie er diese eklige Pampe so schnell herunterbekommen hatte.
Mit einem schnellen Blick versicherte ich mich, dass meine Mutter gerade nicht hinsah und schob ihm meinen Teller rüber. Mark blickte mich überrascht an. Ich nickte und gab ihm stumm zu verstehen, dass ich heute sowieso keinen Hunger hatte. Die Sache mit dem Rabenflug lag mir einfach zu sehr im Magen.

Noch schien meine Familie nichts vom anstehenden Rabenflug mitbekommen zu haben. Eigentlich kein Wunder. Die meisten Nachrichten wurden über das Internet verbreitet, aber wie die meisten Leute aus der Unterschicht, konnten wir uns keine digitalen Geräte leisten.
So waren Schulen stets mit einer der ersten Orte, an denen Neuigkeiten die Runde machten.
Ich musste meiner Familie davon erzählen. Aber wie?
Verdammt! Ich kann es einfach nicht leiden, schlechte Nachrichten zu überbringen! Aber wer mag das schon?
Ich rutschte unruhig auf der harten Holzbank herum und suchte fieberhaft nach einer guten Überleitung. Aber wie so oft wollte mir einfach keine einfallen.
Die Sekunden flossen dahin und schließlich setzte mein Vater an, sich zu erheben.
Ich räusperte mich und erntete fragende Blicke.
Nur Benjamin-Berthold stocherte nach wie vor lustlos in seinem Essen.
„Ich ... also ... heute Morgen hatten wir übrigens eine Versammlung in der Schule.
Wegen den Gerüchten über den Tod des Königs und so."
Für ein paar Herzschläge herrschte angespannte Stille.
"Der König ist tot. Deshalb müssen wir Morgen bei Sonnenuntergang auf dem großen Platz vor dem Tempel erscheinen. Damit die Götter ihren Champion wählen können."
Letzteres sagte ich mit versagender Stimme. Ich blickte zu Boden, konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen.

"Was machen wir dann da, auf dem großen Tempelplatz?" fragte Benjamin unschuldig in die Stille hinein. Meine Eltern tauschten einen langen Blick.

"Wir werden die ganze Nacht feiern und fröhlich sein. Du wirst sogar den Göttern dabei zusehen können wie sie einen ganz besonderen Menschen auswählen, jemanden der dann die große Ehre hat, einen von den Adeligen zu vertreten und mit ihm den Platz für den Königsthron zu sichern. Du weißt schon, ein Rabenkind, einen Halbgott," sagte meine Mutter und strich ihrem jüngsten Sohn liebevoll übers Haar.
Mein kleiner Bruder schien sich mit dieser Antwort völlig zufrieden zu geben und fuhr fort kleine Kartoffelstücke aus seiner Suppe zu picken.
Mein Vater erhob sich und schlurfte wortlos in Richtung Schlafzimmer.
„Gibt es da morgen dann auch richtiges Essen?" fragte Benjamin.
Meine Mutter nickte. „Bestimmt. Letztes Mal haben die Adeligen ein freies Buffet für alle organisiert."

Mark schüttelte neben mir kaum merklich den Kopf.
Vermutlich war er sich auch nicht so sicher, was er davon halten sollte, dass meine Mutter Benjamin den ganzen blumigen Quatsch wiederkaute, den die Priester immer von sich gaben. Von wegen es ist ja so eine unbeschreiblich große Ehre für die Adeligen, die Halbgötter, sein Leben aufs Spiel zu setzten, es wird ein großes Fest, freut euch und seid fröhlich...
Natürlich, war ich noch nie selbst dabei gewesen und die meisten Leute redeten nicht gerne darüber, aber alles in allem klang „Der Flug der Raben" für mich nicht wirklich, wie eine Veranstaltung, an der einfache Leute wie wir etwas zu feiern hatten. Die Adeligen hingegen feierten ganz bestimmt. Die nutzten doch ohnehin jeden noch so kleinen Anlass dazu rauschende Feste zu feiern. Aber wir waren nicht adelig.

Mark stand auf. „Gute Nacht, bis Morgenfrüh," sagte er in Richtung meiner Mutter, „Ich freue mich schon."
Seine letzten Worte troffen nur so vor Ironie. Dann wandte er sich schnell ab und rannte nach oben in sein Zimmer. Später als auch ich zu Bett gegangen war glaubte ich, ihn leise weinen zu hören.

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt