"Das war dermaßen dumm. Hättest du nicht einfach deine Klappe halten können?"
"Nein," erwiderte Ilija stur. Seine Unterkiefer mahlten. "Ich werde nicht mehr zu all dem Unsinn schweigen."
Wendelin seufzte und setzte sich resigniert auf sein Bett. Er wusste aus Erfahrung, dass es sinnlos war, Ilija von einer Sache abbringen zu wollen, in die er sich verbissen hatte.
Mit mulmigem Gefühl erinnerte er sich daran, wie die Priester seinen Zimmernachbar zu dritt aus dem Tempel geschleift hatten.
„Ist das der Grund, warum sie dich von der Schule der Hohepriester gekickt haben?" fragte Wendelin nach einer Weile.
„Was?" entgegnete Ilija kalt.
„Na, dass sie dich irgendwann rausgeschmissen haben weil du ihnen zu widerspenstig warst und offen eine andere Meinung hattest als sie."
„Hm," machte Ilija missmutig. "Mag manchmal schon so gewesen sein, aber das ist nicht der Grund warum ich jetzt hier bin."
"Sondern?" fragte Wendelin betont beiläufig.
Ilija seuftze. "Das geht dich eigentlich gar nichts an. Außerdem ist die Wahrheit wahrscheinlich weit weniger akzeptiert als die Vorstellung, man hätte mich wegen Aufmüpfigkeit rausgeschmissen."
„Heißt das, du hast tatsächlich alle Lehrbücher verbrannt und dann aus purem Protest die Nichte des Hohepriesters gevögelt?" entfuhr es Wendelin.
Ilija blickte auf und verzog missmutig das Gesicht: „Wer hat dir denn den Schwachsinn erzählt?"
„Niemand. Alle sagen das."
„Und da bist du natürlich davon ausgegangen, dass es stimmt," murmelte Ilija. Bitternis schwang in seiner Stimme mit.
Wendelin blickte peinlich berührt zu Boden. „Na ja, es klang zumindest einigermaßen plausibel."
Ilija lachte trocken auf. „Schon mal darüber nachgedacht, dass es vielleicht auch andere, viel logischere Erklärungen geben könnte?"
Für einen Moment starrte Wendelin Ilija abschätzend an. „Das heißt also, du hast nicht...," fragte er vorsichtig. Die unausgesprochne Frage hing für einige Herzschläge zwischen ihnen in der Luft.
Ilija zuckte belustigt mit den Schultern. „Soweit ich weiß, habe ich meinen damaligen Lehrern nie einen Grund gegeben sauer auf mich zu sein. Zumindest nicht so sauer. Der Schulleiter hat sogar versucht, mich zum Bleiben zu überreden. Ich war einer seiner begabtesten Novizen und er hatte angeblich große Hoffnungen in mich gesteckt. Hat er zumindest behauptet. Aber bei den ganzen anderen Flaschen da, kann ich mir gut vorstellen, dass es tatsächlich die Wahrheit war."
„Soll das etwa heißen, man hat dich nicht hochkant aus der Hohepriesterschule gekickt?"
„Durchaus korrekt. Ich bin freiwillig gegangen."
„Du... Was?" stammelte Wendelin ungläubig. „Aber es ist doch eine große Ehre dort unterrichtet zu werden. Ganz abgesehen von all dem Geld und den ganzen Privilegien, die dir dann später als Hoherpriester zustehen. Jeder mit nur einem Quäntchen Verstand in der Birne-"
„Schweig!" herrschte Ilija ihn plötzlich an. „Rede nicht zu viel über Dinge, von denen du absolut keine Ahnung hast."
Er brütete eine Weile stumm vor sich hin. Es war nichts zu hören alle die beständige Melodie der Regentropfen die leise gegen des Fenster schlugen. „Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Ehre und Geld. Außerdem ist es gar nicht so leicht beides auf einmal zu haben."
„Wie meinst du das?"
Ilija antwortete ihm nicht, sondern blickte ihn nur mit einem Gesichtsausdruck an, den er nicht so recht zu deuten wusste. Aber Wendelin hütete sich nachzufragen. Ilija konnte dämliche Fragen ab einem gewissen Punkt nicht ausstehen. Und er hatte seine ganz eigene Definition davon, wann eine Frage unangebracht war und wann nicht. Besonders, wenn ihm wieder mal eine Laus über die Leber gelaufen war. So wie jetzt vermutlich. Aber so genau konnte man das bei ihm nie sagen.
Einmal hatte er Ilija ganz harmlos nach seiner ehemaligen Familie und seinem Alltag gefragt. Damals, als sie noch nicht bei den Priestern gelebt hatten, wo jegliche Verbindung zur Außenwelt nicht gern gesehen wurde. Ilija hatte zuerst gar nicht reagiert und dann, als er nachgebort hatte, patzig geantwortet: "Du willst wissen, wie mein Alltag davor aussah? Na schön, wenn es dich so sehr interessiert: er war groß und grün und er trug einen Hut!" Dann hatte er die Arme vor der Brust verschränkt und war schweigend neben ihm den Gang entlanggeschritten.
Wendelin hatte sich nicht mehr getraut die Stille zu durchbrechen. Und so war das rhythmische Hallen ihrer Schritte, das Einzige, was sie durch den langen, düsteren Gang zum Tempel geleitet hatte.
Manchmal kam es auch vor, dass Ilija überhaupt nicht reagierte wenn man ihn etwas fragte. Wahlweise betitelte er gewisse Fragen dann als unter seiner Würde, besonders, wenn man ihn dieselbe Frage schon einmal gestellt hatte, oder aber er versank für eine halbe Ewigkeit in Schweigen, nur um dann einige Stunden später mit einem sonderbaren Gleichnis über Socken und Tomaten als Antwort aufzutauchen, das nur er verstand.
Schweigend zog Wendelin die Schuhe aus und legte sich ins Bett. Obwohl er manchmal ein ziemliches Arschloch sein konnte, war Ilija im Grunde einer der loyalsten Freunde, die er bisher im Kloster gefunden hatte. Er zeigte es nur nicht immer auf Anhieb.
Der Großteil der anderen Jungs, war zwar entweder ganz nett, aber nicht die Sorte Mensch, die er sich als Freunde aussuchen würde, oder ließ ihn zwar irgendwie mitmachen, aber trotzdem spüren, dass er nicht so richtig zur Gruppe gehörte.
Ilija hingegen schien mit Leib und Seele ein Außenseiter zu sein, der seine eigensinnigen Ansichten mit Klauen und Zähnen verteidigte. Ebenso wie seine Geheimnisse.
Er schielte zu seinem Bettnachbarn hinüber, der im Schein der kleinen Nachttischlampe eifrig Dinge auf eine handvoll loser Blätter kritzelte.
Alle redeten über Ilija. Der Junge roch förmlich nach Skandal und Geheimnissen. Die Wahrheit hatte Ilija bisher allerdings jedes Mal für sich behalten. Was ihn umso interessanter machte.
Zwar stieß seine Art nicht unbedingt bei allen auf Gegenliebe, dennoch hatte Wendelin nicht das Gefühl, dass Ilija von den anderen verurteilt wurde.
Eher im Gegenteil.
Alle schienen eine heimliche Art Respekt vor ihm zu haben.
Vielleicht sollte er auch öfters ein wenig arschig sein und sich ein paar Geheimnisse zulegen, dachte Wendelin bei sich und kuschelte sich tiefer in sein Bett.
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Im Zeichen des Raben
Science FictionIn ferner Zukunft. Kriege, Klimawandel und Umweltverschmutzung haben ihren Tribut gefordert. Unsere heutige Zivilisation wurde vom Erdboden getilgt. Aus ihren Ruinen sind neue Hochkulturen entstanden. Neue Königreiche regieren nun die Welt. Für viel...