Ich krallte meine Hände fester in das Polster des Stuhls. Ganz sanft glaubte ich den Zug unter mir vibrieren zu spüren. Ich schluckte und versuchte nicht an all die Tonnen von Fels, Gestein und Geröll über uns zu denken. Wenn es eine Sache gibt, die ich fast genauso wenig leiden kann wie schwindelerregende Höhe, dann ist es definitiv abgründige Tiefe. Ich bin nun einmal ein Mensch, der gerne mit bei den Beiden auf dem Boden steht und-
Rumms! Das war das Buch.
Unter den messerscharfen Blicken von Dr. Dr. Professor Lohnmeyer hob ich das fette Papiermonstrum auf und platzierte es erneut sorgfältig auf meinem Kopf."Fehler Nummer 638, eine Lady krallt sich nicht in Mobiliar jeglicher Art.
Fehler Nummer 639, es schickt sich nicht dumm in die Luft starren, sodass dabei gänzliche Haltung abhandenkommt! Vor allem nicht, wenn dein Gegenüber versucht dir etwas mitzuteilen.
Und Fehler Nummer 640, eine Dame mit Stil wackelt nicht mit dem Kopf herum wie eine debile Winkekatze.""Erstens muss ich mit dem Kopf wackeln, sonst fällt mir das bescheuerte Buch runter und zweites..." setzte ich genervt an, wurde aber sogleich vom grauen Herrn unterbrochen.
"Wiederholung Fehler Nummer zehn. Angemessene Ausdrucksweise, wenn ich bitten darf!"
"Verzeiht. Erstens muss ich durch das debile Kopfwackeln verhindern, dass das Buch seinem natürlichen Bestreben nachkommt und der Schwerkraft auf den Boden der Tatsachen folgt und zweitens wackeln die meisten Winkekatzen nicht dümmlich mit dem Kopf, sondern mit der Pfote."
In einem Anfall von Schwachsinn versuchte ich die Winkbewegung für den grauen Herren zu imitieren. Und so landete das Buch zum dritten Mal an diesem Morgen mit einem geräuschvollen Rumms auf dem Boden.
Der graue Herr sog scharf die Luft ein und zog seine Krawatte enger. Das tat er nun schon zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag. Wenn er nicht aufpasste würde er sich noch damit erwürgen.Es klopfte.
"Herein," bellte der graue Herr.
"Guten Tag Mr. Lohnmeyer," sagte ein sportlicher junger Mann. Direkt hinter ihm linste Rainbow neugierig ins Zimmer. Und wenn mich nicht alles täuschte, dann gehörte der grazile Schatten auf dem Boden zu Mrs. Fox. Was machten die denn hier?
"Guten Tag," erwiderte der graue Herr kühl und zog ein beleidigtes Gesicht. Vielleicht nahm er es dem sportlichen Typen übel, dass er nur Mr. und nicht Professor Dr. Dr. gesagt hatte.
"Mit Verlaub, werter Professor Dr. Dr. Lohnmeyer, ich unterbreche nur ungern, aber dürften wir uns anmaßen , eure Schülerin für einige Zeit in Anspruch zu nehmen? Wir haben nämlich nur ein sehr begrenztes Zeitfenster zur Verfügung, wenn alles bis heute Abend vorbereitet sein soll," sagte Mrs. Fox mit einer angedeuteten Vorbeugung nachdem sie den sportlichen Typen wohlweislich beiseite gezogen hatte.
"Was sie nicht sagen." Der graue Herr prüfte den Sitz seiner Krawatte, fuhr sich durch die Haare und seufzte tief. "Aber wenn es denn unbedingt sein muss..."
Ich war heilfroh dem grauen Herren entronnen zu sein. Aber nur bis ich erfuhr, was ich stattdessen machen sollte.
Eigentlich hatte ich vermutet, dass ich nur irgendein unbequemes Kleid anziehen müsste, um zu sehen ob es passt. Aber ha, ha denkste. Stattdessen brachte man mich ins letzte Abteil. Auf den Kinderspielplatz. Kaum angekommen machten sich der sportliche Typ und Mrs. Fox daran sämtliche Bälger vom Kletterturm zu vertreiben. Nur Rainbow blieb neben mir stehen und betrachtete das Geschehen amüsiert. Und ich, nun ja, ich kam mir unglaublich verarscht vor und versuchte mir wieder mal einen Reim darauf zu machen was das Ganze sollte. Aber ich glaube ich hätte es besser früher aufgegeben die Adeligen und ihren Fandom verstehen zu wollen."So Ravenna, jetzt kann's losgehen," sagte der sportliche Typ mit einer Spur zu viel Motivation für meinen Geschmack. "Ich bin übrigens Dirk."
Erst im zweiten Moment würde mir klar, dass er ja mit mir sprach. Ravenna. An diesen Namen musste ich mich erst noch gewöhnen.Zögerlich folgte ich Dirk hinüber zum Kletterturm. Mrs. Fox stand ganz oben und blickte abwartend auf uns herunter. Es war mir ein Rätsel wie sie in ihrem Anzug und mit den elendig langen Stöckelschuhen so schnell da hochgekommen war. Und es rief ein ungutes Gefühl in mir wach. Wartete sie etwa auf uns? Also, sollte ich ebenfalls da hoch?
Das waren bestimmt fünf Meter. Mindestens.Und ja, musste ich. Wenn man Dirk glauben konnte dann diente der ganze Mist hier ausschließlich meiner Vorbereitung auf den heutigen Abend. Aber als ob ich dann vor den Augen der ganzen Menschheit auf einen blöden Kletterturm kraxeln müsste. Andererseits weiß man nie was so alles in den kranken Gehirnen der Rabenkinder vor sich geht. Schließlich schienen sie ja auch eine Vorliebe für sehr hohe Podeste zu hegen. Vermutlich damit sie arrogant auf alle anderen herabblicken konnten. Oh ja, das würde zu ihnen passen.
Und außerdem begann ich mich inzwischen ernsthaft zu fragen, wie genau das mit dem Wettlauf denn ablaufen würde. Ich meine, ich war zwar jetzt Champion, aber erstens hatte man mich immer noch nicht genauer über den Wettlauf aufgeklärt und zweitens bestand meine bisherige "Vorbereitung" eigentlich nur aus benehmen und schön aussehen. Aber ich glaube kaum, dass ich die anderen Champions alleine durch meine Ausstrahlung fertig machen könnte. So umwerfend war ich dann auch wieder nicht."He, Ravenna, komm mal rüber," sagte Dirk und fuchtelte mit einem Kletterseil herum, das von ganz oben herabhing. Er legte einen Klettergurt um meine Hüften und zeigte mir wie man das Kletterseil daran befestigte. Dann machte er sich sogleich selbst an den Aufstieg. Ohne Sicherungsseil wohlgemerkt. Und ehe ich mich versah, hing er schon drei Meter über mir. "Alles in Ordnung Ravenna?" fragte er.
Ich nickte beklommen und versuchte meine aufkeimende Panik zu bekämpfen. Wenn Mrs. Fox sogar mit Stöckelschuhen da hoch klettern konnte, schaffte ich das doch locker zweimal. Bevor ich es mir anders überlegen konnte schnappte ich den ersten Griff und zog mich langsam daran hoch.
Eigentlich war es gar nicht so schwer. Man durfte nur nicht nach unten sehen. Und so arbeitete ich mich langsam voran. Stück für Stück. Die ersten paar Schritte ging es noch relativ leicht, aber dann wurden die die Abstände zwischen den einzelnen Haltegriffen zunehmend größer und größer. Bald schon fand mein tastender Fuß keinen neuen Halt mehr. Ohne groß nachzudenken neigte ich den Kopf nach unten, um herauszufinden wo sich der nächstbeste Klettergriff befand. Er war keine zwei Zentimeter links von meinem Bein, aber dafür war der Boden viel, viel weiter unten als ich angenommen hatte. Beinahe sofort stieg ein dämliches Schwindelgefühl in mir auf. Mein Herz raste. Wie gelähmt hing ich an der Wand und krallte meine Finger immer fester um die Klettergriffe. Bloß nicht loslassen. Doch der Angstschweiß ließ meine Hände immer rutschiger und rutschiger werden. Lange würde ich nicht mehr durchhalten.Zitternd und völlig verschwitzt ließ ich mich auf die Plattform sinken. Dirk hatte mich hochziehen müssen. Und beinahe alle kleinen, hochwohlgeborenen Adelssprösslinge waren wieder zum Turm gelaufen und gafften was das Zeug hielt. Rainbow stand neben mir und blickte mitleidig auf mich herunter, während Dirk und Mrs. Fox vollauf damit beschäftigt waren ein seltsames Gewirr aus Stoff und Metall zu ordnen. Ich wollte lieber gar nicht wissen, was sie damit vorhatten. Und schon zweimal nicht, warum ich mich deshalb an die fünf Meter über dem Boden befinden musste.
Übrigens, falls es euch interessiert, mein Besuch bei Rabenklaue gestern Nacht, war so ganz anders verlaufen als geplant. Ich hatte artig an seine Tür klopfen und wenn er diese nichts Böses ahnend aufmachte, hastig hineinschlüpfen wollen, um ihm dann triumphierend zu verkünden, dass ich von seinen Machenschaften im Armenviertel durchaus unterrichtet war. Anschließend hätte ich ihn noch ein wenig zappeln lassen. Genau genommen solange, bis er bibbernd zu meinen Füßen lag und "Bitte, Bitte, verpetz mich nicht! Ich mach alles! Alles was du willst! Aber bitte, bitte, halte deine Klappe!" winseln würde. Und dann würde ich gönnerhaft mit meinem Deal kommen.
Ich würde der Rabenmutter nicht verraten, dass Rabenklaue sich heimlich in der Stadt rumtrieb, um weiß der Geier was zu machen und im Gegenzug würde er Mark freilassen.
Ja, ich hatte mir alles bis in kleinste Detail ausgemalt.
Aber Rabenklaue hatte nicht mal die Tür aufgemacht. Auch nicht als ich lauter geklopft hatte als meiner Position angemessen war. Männer!
Immer machen sie einem einen Strich durch die Rechnung!Nun ja, und da mein verletzter Stolz nicht in der Lage war klein bei zu geben, drückte ich meine Hand schließlich höchstselbst auf das ovale Feld neben seiner Türe. Doch, oh Wunder, es war rein gar nichts passiert. Vermutlich konnte man die Dinger irgendwie abschließen. Da hatte man schon einmal einen Plan und dann das!
Dennoch blieb die Frage, ob Rabenklaue einfach nur keinen Besuch hatte empfangen wollen oder ob er anderweitig beschäftigt gewesen war. Und wenn ja, was hatte er getrieben? Verbarg er am Ende noch mehr Geheimnisse als ich anfangs vermutetet hatte?
Irgendwann würde ich ihn noch abpassen, das schwor ich mir.
Blöd nur, dass nicht immer alle Geheimnisse auch gut für einen sind.
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Im Zeichen des Raben
Научная фантастикаIn ferner Zukunft. Kriege, Klimawandel und Umweltverschmutzung haben ihren Tribut gefordert. Unsere heutige Zivilisation wurde vom Erdboden getilgt. Aus ihren Ruinen sind neue Hochkulturen entstanden. Neue Königreiche regieren nun die Welt. Für viel...