6. Kapitel

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Die Sonne goss ihr Blut gerade über dem Himmel aus und der Mond war schon im Begriff aufzugehen, als die Prozession begann.
Ich hatte mich schick gemacht. Es war schließlich das wichtigste Ereignis in diesem Jahrzehnt. Meine Haare waren gekämmt und ordentlich hochgesteckt. Außerdem trug ich mein Festtagskleid. Mutter hatte mir sogar eine ihrer geliebten Rabenstein Ketten geliehen. Sie bestand aus einem kompliziert geflochtenen Lederband und einem Anhänger aus nachtschwarzem Edelstein. Er stellte eine kleine, detailliert gearbeitete Abbildung der Rabengöttin dar und sollte Glück bringen, indem er die Aufmerksahmkeit der Göttin auf seinen Träger lenkte.
Ich persönlich hatte meine Zweifel daran, dass er wirklich mit der Göttin in Verbindung stand, aber meine Mutter war felsenfest davon überzeugt. Und so trug ich diese Kette, weil sie zugegeben wirklich schön war und auch ein wenig meiner Mutter zu liebe. Es konnte ja nicht schaden, dachte ich.
Aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, die Aufmerksamkeit der Göttin an einem Tag wie diesem auf sich zu lenken.

Nervös trat ich von einem Bein auf das andere und versuchte meine wachsende Panik in den Griff zu bekommen. Ungewissheit gehört so ziemlich zu den miesesten Gefühlen die du haben kannst. Wenn ich wenigstens wüsste, wen die Raben wählen würden. Dann könnte ich diesen Abend vielleicht genießen. Aber so?

Ein Raunen ging durch die Menge, als die ersten Lichter am Horizont das Nahen der Prozession ankündigten. Die Rabenkinder würden mit den Priestern durch die ganze Stadt ziehen und dabei alle Einwohner zum Areal des großen Tempels begleiten.
Kurz darauf verstummte das aufgeregte Raunen plötzlich ganz und machte einer ehrfürchtigen Stille Platz. Ich reckte den Hals, versuchte zwischen all den Köpfen hindurch zu spähen und den Grund für das plötzliche Schweigen auszumachen. Aber ich sah nur lauter Köpfe und einen kleinen Ausschnitt Pflastersteine.
Leise Musik erklang. Ich tauschte einen ratlosen Blick mit Zaarah, die mit ihrer Mutter neben uns stand. Benjamin war von der langen Steherei müde geworden und schlief im Arm meines Vaters. Mark tippte mir von hinten auf die Schulter. In seinen Augen lag ein Glitzern, das mich unwillkürlich an den kleinen Jungen von früher denken ließ. Er deutete nach oben. Und da sah ich es auch. Ich hatte den Fehler gemacht nur auf dem Boden nach Personen zu suchen. Aber auf dem Boden war niemand. Sie waren in der Luft.
Ganz vorne, an der Spitze der Prozession, ungefähr zwei Meter über dem Boden schwebte eine Gestalt in langen schwarzen Gewändern. Als sie näher kam erkannte ich die Rabenmutter. Sie war die Älteste des Raben-Clans und somit oberste Priesterin und Chefin der Stadt in einem. Aber wenn ihr jetzt das Bild einer alten Frau vor Augen habt, so täuscht ihr euch gründlich.
Gerüchten zufolge ist die Rabenmutter zwar länger auf der Welt als alle anderen Bewohner dieser Stadt, aber als ich sie in hochherrschaftlicher Pose auf ihrer fliegenden Scheibe über den Köpfen der Masse stehen sah, schien sie keinen Tag älter als zwanzig. Ihren Kopf zierte ein silbernes Diadem mit dunklen Steinen und ihr tiefschwarzes Gewand flatterte im Wind, so dass es aussah als trüge sie zwei Paar riesige Flügel auf dem Rücken. Die Flugscheibe selbst leuchtete bläulich und verlieh der Rabenmutter etwas überirdisches. Es wirkte, als sei die Göttin selbst vom Himmel hinabgestiegen, um dem Rabenflug  beizuwohnen.
Der Gedanke verursachte mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
Um mich abzulenken, betrachtete ich die anderen Adeligen genauer, die nun nach und nach hinter ihr erschienen.
Auch sie gaben sich nicht minder geheimnisvoll. Allerdings waren ihre Kleider in der Regel erheblich freizügiger. Doch auch sie trugen alle ausnahmslos weite, oft durchsichtige Schleppen und Umhänge, die gleich zarten Flügeln hinter ihnen herwehten. Sie waren wunderschön und zugleich ein wenig unheimlich mit ihren dunklen Augen, den schwarzen Lippen und den Haaren in der Farbe von Rabenfedern.
Direkt hinter der Rabenmutter schwebte ein hübscher Jüngling mit arroganten Grinsen. Merkwürdigerweise kam er mir seltsam bekannt vor. Irgendwo links von mir stieß ein Mädchen einen entzücken Schrei aus. Er drehte für einen Augenblick den Kopf und schenkte ihr ein perfekt einstudiertes Lächeln. Sie wurde rot und schnappte geräuschvoll nach Luft.
Mir jedoch, rutschte bei seinem Anblick fast das Herz in die Hose. Er war der Junge, in den ich Gestern aus Versehen hineingerannt war. Verdammt. Sah ganz danach aus als wäre er ein ziemlich hohes Tier. Warum musste so etwas eigentlich immer mir passieren?
Ach du heilige Scheiße. Jetzt hatte er mich auch bemerkt. Seine unheimlichen, dunklen Augen fanden die meinen und blickten mich lange nachdenklich an. Schlagartig kehrte meine Angst zurück. Ich senkte den Blick.
Mark zischelte irgendetwas sehr unfreundliches  in meinem Rücken. Aber ich bekam es kaum mit.
Tief durchatmen, zur Ruhe kommen, sich ja nichts anmerken lassen, wiederholte ich gedanklich immer und immer wieder.
Vielleicht sah ich ja einfach nur Gespenster.

Als ich mich wieder halbwegs auf die Geschehnisse in meiner Umwelt konzentrieren konnte, waren die Adeligen längst vorüber geglitten.
In einigem Abstand folgte eine Gruppe von Priestern. Auch sie besaßen Flugscheiben, wenn auch deutlich kleinere.
Es ist mir nach wie vor ein Rätsel wie sie es schafften, die ganze Zeit über völlig reglos im Lotussitz zu sitzen und endlose Sprechgesänge zum Lob der Göttin zu skandieren. Mir wären spätestens nach einer Minute die Beine eingeschlafen. Davor wäre ich aber devinitiv beim Sprechgesang aus dem Takt gekommen. Rhythmus ist nämlich auch nicht so meins.
Wobei, genaugenommen gab es auch ein paar Priester,  die Weihrauchkugeln und Räucherwerk schwenkten während andere mit ihren Fingen über glänzend polierte Instrumente flitzten. Sie bließen in Fanfahren, zupften unablässig Saiten und tiefe Trommeln gaben den Marschtakt vor. Es war die Sorte von Klang, die tief in den Bauch fuhr und die ganze Welt vibrieren ließ. Von irgendwoher tönte eine Flöte, leise und melodisch. Das war schon eher meine Welt.
Natürlich wusste ich, dass die Priester nicht wirklich musizierten. Ich bin ja nicht dumm. Ein Computer spielt besser als Menschen es je können würden.
Ein Computer trifft immer den richtigen Ton, kann alle Stücke auswendig und verpasst nie seinen Einsatz.
Die Instrumente waren lediglich Zierde, aber mir gefiel die Vorstellung dennoch, dass das alles echt sein könnte.

Hinter den Priestern fuhren die Reichen auf ihren Hoverbords die Straße entlang, ihre Gewandung war sogar noch freizügiger als die der Adeligen und reichten von ausgefallen über exquisit bis hin zu äußerst merkwürdig. Dahinter kam wiederum die Mittelschicht und ganz hinten, möglichst weit weg von den anderen, reihten wir uns ein.
Benjamin war inzwischen wieder wach geworden und durfte auf den Schultern meines Vaters sitzen. Er strahlte wie ein kleines Hohnigkuchenpferd und zog meinen Vater an den Haaren, um ihn zu lenken.
Im Takt der Trommeln setzten wir unsere Schritte, wurden eins mit der Masse und verloren uns schließlich aus den Augen, ohne es überhaupt zu bemerken. Genau genommen realisierte ich es erst viel spätet als die riesigen Mauern des großen Rabentempels vor mir aufragten.
Beeindruckt blieb ich stehen. Ich kannte den großen Tempel aus Bildern, aber ihn selbst zu sehen war nochmal etwas ganz anderes.
Er war deutlich größer als ich es mir vorgestellt hatte.
Große Tore, in die unzählige Raben eingehauen waren zierten die schlichte Mauer aus glattpoliertem gräulich-schwarzem Stein, die die Temelanlage schützte.
Dahinter ragte zwischen blühenden Baumkronen große Kuppeln und spitze Dächer auf.
Normalerweise ist der große Tempel nur für die Adeligen reserviert und wir als einfaches Volk gehen zum Beten in die deutlich schlichteren Tempel in unseren Stadtvierteln.
Doch nicht heute. Heute war der Rabenflug. Das hieß, alle Bürger durften den großen Rabentempel besuchen, dort feiern und den Göttern opfern. Und wenn ich sage alle Bürger, dann meine ich auch alle. Denn den Tempel der Adeligen großen Rabentempel zu nennen ist eigentlich fast schon untertrieben. Der große Rabentempel überragt nämlich  alle anderen Gebäude im Umkreis deutlich und die zugehörige Parkanlage ist angeblich fast so groß wie sie halbe Stadt.
Früher habe ich das verständlicherweise für ausgesuchten Quatsch gehalten, aber als ich den Tempel heute zum ersten mal mit eigenen Augen sah, war ich gut und gerne bereit das zu glauben. Schon das Eingangstor war so hoch, dass selbst ein Baukrahn mühelos hindurch gepasst hätte. Die angrenzenden Mauern waren sogar noch um ein Vielfaches höher. Riesige Bildnisse der Rabengöttin starrten zu beiden Seiten missgünstig und unheilschwanger auf die Menge herab.
Ich fühlte mich schon seit geraumer Zeit unangenehm beobachtet. Suchend blickte ich mich um. Aber da war niemand. Also das heißt, da gab es schon eine ganze Menge Menschen, aber keiner von ihnen beachtete mich auch nur im Geringsten. Verunsichert blickte ich hinauf zu den Statuen. Ich hatte das ungute Gefühl, dass ...

Sorry, Leute ich bin wohl leider etwas schreckhaft in letzter Zeit. Böse Statuen? Also ehrlich!
Was war nur in mich gefahren? Wurde ich langsam verrückt?
Hoffentlich nicht. Das hätte mir gerade noch gefehlt.

Jetzt wo ich im Nachhinein so darüber nachdenke, dann hätte mir tatsächlich genau das gefehlt. Psychische Verwirrtheit wäre der perfekte Grund für einen schnellen Abgang gewesen. Und selbst wenn es dafür nicht gereicht hätte, so wären die kommenden Stunden dadurch vielleicht ein wenig erträglicher geworden.

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt