24. Kapitel - Fehler

71 15 17
                                    


Diesmal achtete ich penibelst darauf, das Frühstück ja nicht zu verpassen. Auf so ein Dilemma wie Gestern konnte ich gut verzichten. Zumal ich wirklich Hunger hatte.
Also schluckte ich den kläglichen Rest, der von meinem Stolz noch geblieben war hinunter und ließ mir von meinem Leibroboter den Weg zur Frühstückskammer zeigen.

Und natürlich mussten mir auf dem Weg dorthin jede Menge umwerfend aussehender Rabenkinder begegnen, was zur Folge hatte, dass ich mir mit meinen dämlichen Blutergüssen und dem sackartigen Krankenhauskittel nur noch hässlicher vorkam.
Mein schönes Festtagskleid vom Rabenflug hatte ich nämlich nirgends finden können. Und ja, ich hatte zwar theoretisch einen begehbaren Kleiderschrank in meinem Zimmer, aber de facto war da nichts drin.

Jedenfalls bedachten mich einige der Adeligen, insbesondere die kleinen Mädchen, im Vorüberrauschen mit missbilligenden Blicken oder brachen in unterdrücktes Gelächter aus. Ich ballte beide Hände zu Fäusten und beschloss sie zu ignorieren. Dämliche Dummtussis!

Stattdessen versuchte ich mir krampfhaft jedes noch so kleine Detail einzuprägen. Vielleicht würde ich ja irgendwo auf einen Hinweis stoßen, der mich zu den Gefängnissen und somit zu Mark führen würde.
Das Problem war nur, dass diese Gänge alle verdammt gleich aussahen. Das kannst du dir doch nie merken, raunte eine immer stärker werdende Stimme in meinem Kopf.
Ich versuchte die Stimme der Vernunft zum Schweigen zu bringen. Ich wollte einfach nicht akzeptieren, dass es aussichtslos war. Wollte nicht wahrhaben, dass die Adeligen ihre Gefängnisse sicherlich nicht direkt in ihrem Wohntrakt errichtet hatten. Ich konnte einfach nicht aufgegeben. Auch wenn ich wusste, dass es kindisch war.
Aber ein „vielleicht" war immer noch allemal besser als direkt aufzugeben.

Plötzlich machte MC800/G8003 vor einem schmalen Fenster halt. Es bot einen wunderschönen Ausblick auf einen lieblichen Blumengarten.
"My Lady, sie haben ihr Ziel erreicht," sagte sie mit übertrieben melodischer Stimme.
Endlich. Mein Magen grummelte schon vor Hunger.
Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen und wartete darauf, dass mein Leibroboter mir den Durchgang öffnen würde. Tat MC800/G8003 aber nicht. Im Gegenteil. Sie blieb unbeweglich stehen und reagierte weder auf meine unmütigen Blicke noch auf den Befehl die Türe doch endlich zu öffnen.
Genervt drückte ich meine eigene Hand auf das ovale Feld neben dem Fenster. Der Garten verschwand beinahe sofort und enthüllte eine unscheinbare Türe mit der Aufschrift: Personal. Einen Türgriff oder so etwas in der Art konnte ich nirgends entdecken. Verdutzt überlegte ich einen Augenblick und drückte schließlich aus Mangel an Alternativen mit meinem ganzen Gewicht dagegen. Viel zu stark, wie sich herausstellen sollte, denn die Türe glitt auf wie Butter.

Mit viel zu viel Schwung platze ich in den angrenzenden Raum und rannte dabei fast einen reichlich beladenen Tisch um. Es gab dutzende Sorten von Brötchen und anderem Gebäck. Außerdem mehrere Schüsseln mit Obst und Getreidemischungen sowie einige gläserne Krüge, gefüllt mit bunten Flüssigkeiten. Vermutlich Saft.
War das alles für mich? Soviel konnte doch kein Mensch auf einmal essen.
Aber gut, ich würde mich auch nicht beschweren. Vielleicht ließ sich ja etwas mitnehmen?

"Hmhm!" machte eine strenge Stimme plötzlich neben mir, als ich Anstalten machte nach einem der Brötchen zu greifen. Ertappt zuckte ich zurück. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass noch jemand im Raum war. Upps.

Dieser Jemand stellte sich als älterer Herr mit beginnender Glatze, kalten grauen Augen und einem unglaublich strengen Zug um die Mundwinkel heraus. Dazu trug er einen maßgeschneiderten Anzug, eine fein säuberlich gebügelte Krawatte und schwarze Lackschuhe. Alles Grau in Grau. Bis auf die Schuhe natürlich.
Typ Spaßverderber, würde ich mal vermuten.

"Hmhm!" räusperte sich der graue Herr erneut und kam sich dabei unheimlich wichtig vor. Hatte ihm denn niemand beigebracht, dass es nicht sehr respekteinflößend ist, auf sich aufmerksam machen zu wollen indem man sich benimmt, als stecke einem eine Fischgräte im Hals?
Ich hatte alle Mühe ein Kichern zu unterdrücken, als er sich zum dritten Mal räusperte.
Kleiner Tipp, entfernen sie die Fischgräte.

Konnte er nicht einfach mal den Mund aufmachen und mir sagen, was er von mir wollte? Und überhaupt, er hatte sich mir noch gar nicht richtig vorgestellt. So was gehört sich aber nicht. Böser grauer Typ.
Dieser Gedanke gab mit endgültig den Rest und ich konnte nicht mehr verhindern, dass meiner Kehle ein komisches Geräusch irgendwo zwischen prusten und husten entwich.

Der graue Herr starrte mich missbilligend an. Anscheinen hatte er jetzt auch bemerkt, dass diese Masche bei normalen Leuten nicht zog. Er hob beide Augenbrauen in schwindelerregende Höhen und betrachte mich abwartend.

Wollte er vielleicht, dass ich ihn begrüßte?
Sollte ich ihm möglicherweise die Hand geben? Oder er mir?

Tja, ich hätte nie gedacht, dass ich das ganze Standesgdönz jemals brauchen würde, sonst hätte ich in der Schule definitiv besser aufgepasst. Oder auch nicht. Benimmunterricht konnte so verdammt langweilig sein. Aber so oder so, woher hätte ich denn wissen sollen, dass ich mal als Champion enden würde?
Als Angehörige der Unterschicht hatte ich noch nie eine höhergestellte Persönlichkeit begrüßen müssen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ich doch mal in eine solche Situation hätte kommen können, hatte ungefähr 0,000001% betragen.
Ich meine wie auch? Von den besseren Leuten verirrte sich eigentlich nie jemand in unsere Viertel. Was mich wieder auf die Frage zurückbrachte, warum ich ausgerechnet in einer der Gassen mit dem schlechtesten Ruf in Rabenklaue hineingerannt war. Was hatte der an so einem Ort zu suchen? Und noch viel wichtiger, wusste die Rabenmutter davon? Wenn nicht, dann hätte ich möglicherweise ein hervorragendes Druckmittel gegen ihn in der Hand. Ein Druckmittel, dass es mir vielleicht ermöglichen würde Mark aus den Gefängnissen herauszuholen. Sofern es dazu noch nicht zu spät war.
Der Gedanke war gut. Sehr gut sogar.

Der graue Herr klopfte leise mit der Schuhspitze auf den Boden.
Wie hatte Rabenfeder ihn noch gestern gleich genannt? - Mr. Lohnmeyer?
Zögerlich streckte ich die Hand aus.

"Schönen guten Morgen Mr. Lohnmeyer. Ich bin Mi... äh, Ravenna. Der Champion."

Doch der graue Herr grunzte nur unmütig. "Professor Dr. Dr. Lohnmeyer, wenn ich bitten darf. Professur für Benehmen. Angestellter ersten Grades der Rabenmutter, Persönlicher Coach der Rabenkinder und Dr. der Verhaltensforschung und der Anstandswissenschaften.
Und nun hat die Rabenmutter MICH damit beauftragt mein Wissen an DICH weiterzugehen."

Die Art wie er das sagte machte nur überdeutlich klar, was er von dieser Anordnung hielt. Nämlich nichts. Als ob sein kostbares Wissen Gold wäre, das ich klauen könnte, wenn er nicht gut genug darauf aufpasste. Ich will ja jetzt nicht respektlos wirken, aber es fiel mir wirklich schwer Dr. Dr. - äh halt, Professor Dr. Dr. , ach Leute, wisst ihr was?
Lassen wir den Quatsch. Der Einfachheit halber nenne ich ihn ab jetzt nur noch den grauen Herren. Was haltet ihr davon?
Jedenfalls fiel es mir echt schwer den grauen Herren wirklich ernst zu nehmen.

"Wo soll ich bloß anfangen?" seufzte er und überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Keine zwei Millisekunden später richtete er sich plötzlich noch kerzengerader auf und bellte:
"Raus!"

Ich runzelte verwirrt die Stirn.

"Erster Fehler. Anweisungen höhergestellte Leute sind umgehend zu befolgen.
Raus! Und dann komm wieder rein."

Nur noch verwirrter hastete ich aus dem Zimmer und knallte die Tür zu, froh dem grauen Wichtigtuer für ein paar Sekunden zu entkommen.

"Fehler Nummer zwei!" donnerte es durch die Türe hindurch. "Man knallt nicht mit Türen und macht nicht ungefragt auf sich aufmerksam."

Aha. Hatte ich ihn etwa gefragt, ob er durch sein komisches Räuspern auf sich aufmerksam machen sollte? Soweit ich mich erinnern kann nicht. Aber er ist ja auch Herr Professor Dr. Dr.. Da darf man so was machen.

Verärgert öffnete ich die Türe und trat wieder ein. Der graue Herr fingerte erneut an seiner Kravatte herum. Und er sah nicht gerade glücklich aus.

"Fehler Nummer drei!" raunzte er. "Man platzt nicht einfach so unaufgefordert in Räume. Raus!"

Also drehte ich mich wieder um und wartete draußen vor der Türe auf das Zeichen, dass ich eintreten durfte. Aber es kam keines. Lange. Sehr lange.
Dieser aufgeblasene Typ ließ mich echt ewig warten. Vermutlich hatte er einen Hass auf mich. Ich lächelte säuerlich, den hatte ich auch auf ihn.
Ob er es bemerken würde, wenn ich mich in der Zwischenzeit ein wenig umsah?

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt