Verschlafen blinzelte ich ins Licht. Rabenfeder. Groß und schlank stand sie vor mir und schüttelte bei meinem Anblick leicht den Kopf. Mir war wohl bewusst, dass ich gerade keine Top-Figur abgab. Zerzaust und völlig verknittert von der Nacht stand ich im Türrahmen. Ich hatte in meinen Tagkleidern geschlafen. Und nein, das mache ich nicht immer. Das Problem war nur, dass all meine Sachen noch bei mir Zuhause lagen.
Zuhause.
Ein süßer Schmerz regte sich in meiner Brust. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal so nach unseren äußerst bescheidenen Lebensverhältnissen zurücksehnen würde.Aber wie dem auch war, ich musste mir wohl oder übel eingestehen, dass ich nicht mehr besaß als die Kleider, die ich am Leib trug und, dass ich so aussah wie eine Vogelscheuche. Kein Vergleich zu Rabenfeder.
Was genau wollte die eigentlich hier?Rabenfeder räusperte sich leicht und sah mich erwartungsvoll an. Vermutlich schrieb irgend so ein Verhaltenskodex mir vor, dass ich mich jetzt untertänigst vor ihr verbeugen, einen guten Morgen wünschen und höflich meine Dienste anbieten sollte. Doch den Gefallen würde ich ihr definitiv nicht tun. Ich hatte einen Plan. Und ich war fest entschlossen ihn in die Tat umzusetzen. Heute Nacht, hatte ich folgenden Einfall gehabt:
Wenn Rabenklaue schon mit dem Gedanken spielte, seinen Champion umzutauschen, könnte ich ihm doch helfen die Rabenmutter auf seine Seite zu ziehen, indem ich mich so respektlos, dumm und ungeschickt wie möglich anstellte.
Mit anderen Worten: Ich würde genau so werden, wie sie es von jemandem aus der Unterschicht erwarteten."Dir ist wohl bewusst, dass Mr. Lohmeyer gar nicht erfreut war, als du nicht zu seiner Frühlektion erschienen bist?" sagte Rabenfeder spitzt.
"Entschuldigung, ich wusste nicht-," entfuhr es mir bevor ich es verhindern konnte.
Ich unterbrach mich hastig und biss mir auf die Lippe. Das mit dem Unartig sein klappte ja hervorragend.
Rabenfeder schien durch diese Entschuldigung jedoch wieder halbwegs besänftigt. Mist! In deutlich versöhnlicherem Ton teilte sie mir geduldig mit, dass ich es auf meinem RR hätte nachlesen können.
Aha. Schon wieder dieser ominöse RR. Der schien echt wichtig zu sein.
Rabenfeder hatte gestern kurz auf einen kleinen Bildschirm direkt neben der Tür gezeigt und mir erklärt, dass dies mein RoomRegulator, kurz RR , sei. Ich hatte nur müde genickt und nicht näher nachgefragt, weil das Teil nicht als Wichtig erachtet hatte.
Irgendwie war es schon nett, dass sie mir alles erklärte, aber leider gab sie nur Auskunft über die falschen Dinge."Und ...äh... wie ...also... na ja... wie bedient man denn so ein RR?" fragte ich vorsichtig.
Okay, das mit dem unfreundlich sein musste ich echt noch üben.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, holte ich tief Luft und fügte schnell, bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte, hinzu:"Gut, dass du mir anscheinend endlich mal etwas Richtiges und nicht immer nur so selbstverständlichen Scheiß wie Toiletten erklärst. Ich dachte langsam schon, ihr wolltet mich verarschen. Aber gut, was will man von oberflächliche Dummtussis wie dir, die ihr ganzes Leben im Palast verbracht haben, schon erwarten?"
Doch die Worte fühlten sich falsch an, noch ehe sie ganz über meine Lippen kamen.
Rabenfeders Augen weiteten sich und ihre Unterlippe begann unwillkürlich zu zittern. Große Göttin! Was hatte ich nun schon wieder angerichtet?
Ich meine sie war ja schon ein bisschen nervig und eingebildet, aber das hatte ich definitiv nicht gewollt. Schließlich war sie bisher die einzige Person hier, die mir halbwegs nett schien.
Rabenfeder starrte mich immer noch ununterbrochen an. So als könnte sie nicht begreifen, dass ich das gerade ernsthaft gesagt hatte. Sie blinzelte. Einmal. Zweimal. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte den Flur hinunter.
Völlig verdattert blieb ich in der Türschwelle stehen. Unschlüssig, was ich tun sollte. Einerseits wollte ich ihr nachrennen, ihr sagen, dass das nicht so gemeint war, aber andererseits wollte ich mich auf keinen Fall der Sache stellen, die ich mit meinen unbedachten Worten angerichtet hatte. Ich glaube, ich habe mich in jenem Augenblick einfach zu sehr geschämt. Bei Rabenklaue oder der Rabenmutter wäre das vermutlich anders gewesen.
Ich hatte nicht bedacht, dass Wörter genauso gefährlich sein können, wie Luftfeuerwaffen. Auch sie können tiefe Wunden schlagen. Der einzige Unterschied ist, dass Pistolen den Körper verletzen, Worte den Geist.
Blöd nur, dass einem sowas immer erst im Nachhinein einfällt.
Außerdem muss ich zugeben, dass es da auch noch eine ekelige dritte Seite in mir gab, die eine unheimliche Schadenfreude darüber empfand und euphorisch die gelungene Umsetzung meines Plans feierte.
Und dass obwohl Rabenfeder eigentlich gar nichts dafür konnte, dass ich zum Champion auserwählt worden war.Ich saß auf der Couch und starrte auf das Meer hinaus. Oder zumindest auf die Meeressimulation. Hier drin war doch sowieso alles Fake. Am Ende stellte sich vielleicht noch heraus, dass ich das alles gar nicht wirklich erlebt hatte, sondern allein mein Gehirn manipuliert worden war, während ich auf einer weißen Arztliege lag. Was bedeuten würde, dass mein ganzes Leben fake war. Und, dass es weder mich noch Rabenfeder noch Mark jemals gegeben hatte. Ich wusste nicht so ganz, ob ich den Gedanken gerade gut oder schlecht finden sollte.
Ja, ich habe eine lebhafte Fantasie.
Aber ist ja eigentlich auch egal. Jedenfalls beobachtete ich eine gefühlte Ewigkeit mit nachdenklicher Mine die Wellen. Ich dachte an unser Gespräch. Überlegte mir was ich hätte sagen können, sollen, müssen.
Ich hätte besser darüber nachgedacht, wie ich dieses kleine Malheur wieder glattbügeln könnte. Wie gesagt, die Vergangenheit kann man nicht ändern die Zukunft schon. Doch vor meinem inneren Auge sah ich nur Rabenfeders unendlich enttäuschte Augen. Wieder und wieder. Irgendwann wurden Rabenfeders traurige Augen zu Marks. Ob er hier im Palast war?Eine glatte, kalte Hand legte sich auf meine Schulter und riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Doch es war nur MC800/G8003, mein neuer Leibroboter.
"Verzeiht, Mylady, sollte ich euch erschreckt haben, doch wenn ich eurem Gespräch von vorhin, die richtigen Schlussfolgerungen entnommen habe, so dürfet ihr an einer kleinen Einführung bezüglich eures RRs durchaus interessiert sein."
Ja, zugegeben, ich war vorhin nicht ganz ehrlich. Dass ich die Funktionsweise des RRs bzw. SRs auf eigene Faust herausgefunden habe ist etwas übertrieben. Aber nach einer kurzen Erklärung von MC800/G8003 hatte ich den Bogen raus. Ich fand sogar selbständig meinen Terminkalender:
7:00 Uhr Aufstehen
7:10 Uhr Frühstück & Einweisung in die wichtigsten Regeln für ein einigermaßen
angemessenes Verhalten von Mr. Lohmeyer
8:30 Uhr Herstellung eines annehmbaren Äußeren in Begleitung von RabenfederOh. Das klärte auch warum sie mich aus den Federn geklingelt hatte.
Die Rabenkinder waren wohl der Ansicht, mein Äußeres sei meiner neuen Stellung nicht angemessen! Beleidigt schnaubte ich durch die Nase. So hässlich war ich dann auch wieder nicht!Als ich jedoch wenig später im Bad in den Spiegel blickte legte sich meine Entrüstung ein wenig. Ich sah ein wenig aus wie eine wandelnde Leiche!
Käsig mit dunklen Augenringen, vom Weinen geröteten Augen, verzottelten Haaren und völlig verschwitzt. Ich seufzte resigniert. Innerlich fühlte ich mich auch wie tot. Ich spürte wie mir die Tränen wieder in die Augen stiegen. Das Spiegelbild verschwamm und eine Träne hinterließ eine feine Salzspur auf meiner Wange.
Ich blinzelte und wischte mir mit dem Zeigefinger über die Augen.
Es bringt nichts der Vergangenheit nachzutrauern. Was geschehen ist geschehen und nichts vermag diese Tatsache wieder umzukehren. Lebe lieber in der Gegenwart, denn allein sie hat das Potential etwas zu verändern, versuchte ich mich selbst zu trösten.
Früher war Mark dafür zuständig gewesen. Mein Spiegelbild verschwamm erneut. Ich sehnte mich nach seinen tröstenden Armen oder einem aufbauenden Gespräch mit Zaarah.
Energisch wischte ich mir erneut die Tränen aus den Augen. Das musste ein Ende haben. Ich straffte mich. Jetzt musste ich stark sein. Ich konnte das schaffen.
Ich würde der Welt zeigen, dass mehr in mir steckte. Langsam schloss ich die Duschtüre hinter mir. Ich würde Ihnen zeigen, dass ich durchaus in der Lage war mein Äußeres auch ohne Rabenfeders Hilfe auf einen akzeptablen Stand zu bringen. So schwer konnte das doch nicht sein. Von nun an würde ich mein Schicksal zum Guten wenden.
Ich war fest entschlossen, das zu schaffen. Ich wollte es ihnen zeigen. Die Rabenkinder würden sich noch wundern.
In Filmen klappte das doch schließlich auch immer.
Ich musste dieses blöde Rennen einfach gewinnen oder viel besser noch zusehen, dass ich Rabenklaues Plan, mich umzutauschen, so gut es ging unterstütze und aus der ganzen Nummer herauskam, bevor der Wettlauf überhaupt begann, dann würde alles wieder so werden wie zuvor. Warum also nicht ich?
So schwer konnte das doch nicht sein!Doch nur wenig später geriet mein Vorsatz ins Wanken.
Und mir kam ein schrecklicher Gedanke.
Sie hatten Mark! Die Rabenkinder hatten ihn abgeführt, weil er versucht hatte mich zu retten. Bei diesem Gedanken stiegen mir erneut die Tränen in die Augen. Ich lehnte mich gegen die kalten Fliesen und beobachtete wie das Wasser an der Duschwand herunterlief.
Mark war den Rabenkindern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Hatte Rabenklaue gestern nach dem Rabenflug nicht gesagt, dass er eigentlich junge, kräftige Männer wollte? So wie Mark einer war?
Und ich Trottel hatte nichts Besseres im Sinn gehabt, als Rabenfeder gegen mich aufzubringen.
Würden sie Mark für meine Fehler zahlen lassen?
Oder ihn mit mir auswechseln, damit er an meiner Stelle rennen, kämpfen und siegen konnte?
War ich am Ende schuld, wenn er starb?
DU LIEST GERADE
Im Zeichen des Raben
Science FictionIn ferner Zukunft. Kriege, Klimawandel und Umweltverschmutzung haben ihren Tribut gefordert. Unsere heutige Zivilisation wurde vom Erdboden getilgt. Aus ihren Ruinen sind neue Hochkulturen entstanden. Neue Königreiche regieren nun die Welt. Für viel...