30. Kapitel - Für ein paar Sekunden ist Fallen wie Fliegen

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Es ist ein komisches Gefühl zu fallen. Wenn der Wind an dir vorbeirauscht, deine Kleider fliegen lässt und der Erdboden immer näher und näher kommt. Es fühlt sich unwirklich an. Und seltsamer Weise hatte ich plötzlich keine Angst mehr.
Die hatten dafür die Leute unter mir. Irgendjemand kreischte. Dann brach Tumult aus. Jeder versuchte sich in Sicherheit zu bringen. "Hilfe, Hilfe! Ein Attentat!" schrie eine hysterische Frauenstimme.
So unpassend es auch klingt, ich musste Grinsen. Womit sollte ich denn ein Attentat verüben? Etwa indem ich auf jemanden drauffiel?
Urplötzlich musste ich an Rabenklaue denken. Das war ein Anschlag! Ein Anschlag auf meine Würde! Oh ja, vielleicht, war ich ja doch eine Terroristin.
Aber wirklich Angst hatte ich immer noch nicht.

Die bekam ich erst in dem Moment, als ich mich plötzlich überschlug. Reflexartig ruderte ich mit den Armen. Beinahe sofort wurde mein linker Arm nach oben gerissen. Mit einem leisen Klicken rastete das Gestänge, das auf meinem Rücken befestigt war, knapp über meinen Schulterblättern ein. Raschelnd blähte sich der Stoff zwischen Arm und Hüfte und bremste meinen Fall. Erstaunt betrachtete ich meinen "Flügel". Ich hätte nie gedacht, dass das Ding wirklich funktioniert. Dabei wusste ich es eigentlich besser.
Die Rabenkinder hatten sie beim Rabenflug schließlich auch benutzt. Wobei es sich dabei laut Dirk, viel eher um eine Gleitvorrtichtung handelte. Wirklich fliegen konnte man mit diesen Teilen nämlich nicht.

Und schon gar nicht, wenn man nur eines davon besaß. Denn mein rechter Flügel streikte irgendwie. Es gab da einen bestimmten Trick, wie man die Schwingen aufklappen konnte, aber ich wusste nicht mehr welchen. Und so fuchtelte ich nur verzweifelt mit meinem rechten Arm in der Luft herum, während ich langsam im Kreis trudelte.
Theoretisch hatte Dirk mir heute Nachmittag alles über meinen Auftritt beigebracht, was ich wissen musste. Praktisch hatte ich davon allerdings nicht allzu viel mitbekommen.
Ich war eigentlich mehr damit beschäftigt gewesen, mich in ein unglaublich enges Kleid zu zwängen. Dafür war es aber wunderschön und es verdeckte die Spuren der Operation nahezu perfekt. Ich hätte ganz bestimmt umwerfend ausgesehen, wären die Versuche von Rainbow und Mrs. Fox, mich zu schminken nicht so kolossal in die Hosen gegangen. Entweder glich mein Gesicht einer komischen Puppe, bei der man erst hinterher festgestellt hat, dass die Gesichtsfarbe doch nicht Badewasserresistent ist oder aber meine Blutergüsse schimmerten durch. Das einzig Positive, was ich in dieser Hinsicht zu vermerken habe ist: Dank der Behandlung und der wirklich übelst schmeckenden Medikamente, die ich seit der Operation über mich hatte ergehen lassen müssen, fühlte ich mich nicht einmal mehr halb so schlimm wie ich aussah.
Kleine Anmerkung am Rande: die Blutergüsse hatten sich inzwischen grün-gelblich verfärbt, was mir die Ausstrahlung einer seekranken Comicfigur verlieh.
Aber zurück zum Thema.
Jedenfalls hatte Rainbow dann die, wie sie es nannte, ultimative Idee aus dem Hut gezaubert. Ich sollte ganz einfach eine Maske tragen. Eine Rabenmaske, versteht sich. Blöd nur, dass Rainbow die Maske irgendwie vertauscht hatte. Fragt mich nicht wie sie das geschafft hat. Oder wer sonst noch verrückt genug ist so ein Teil zu tragen. Sonderlich dekorativ war die nämlich nur so mäßig. Und sie war mir gefühlt zwei Nummern zu groß. Mrs. Fox hatte die Rabenmaske an der Nase und über den Augenbrauen mit einer Art Kleber fixieren müssen, damit sie mir nicht bei meinem Auftritt davonflog.
Allerdings hatte ich deshalb keine Zeit mehr gehabt auch für diesen Auftritt zu üben. Wobei ich gestehen muss, dass ich im ersten Moment wirklich erleichtert gewesen war, dass es bei Dirks Theorieunterricht geblieben war und ich mich doch nicht den Kletterturm ruterstürzen musste. Das Problem hatte ich dafür dann jetzt.  

Schon mal einen Ahornflieger im Wind gesehen? Normalerweise wirbeln sie ja in sachten Kreisen zu Boden. Wenn aber anstatt der üblichen zwei Propeller nur noch einer übrig ist, dann trudeln sie rasch hinunter, weil der Propeller den Samen nicht alleine tragen kann. Fehlt die zweite Tragfläche, fehlt der Ausgleich.
So war es auch mit mir. Ich bekam immer mehr Schräglage und mein Arm fühlte sich an, als würde er jeden Moment aus meiner Schulter gerissen. Ich wusste genau, würde ich meinen zweiten Flügel nicht rechtzeitig entfalten können, würde ich fallen wie ein Stein. Spätestens dann, wenn ich völlig senkrecht in der Luft hing. Um das zu wissen musste man nicht einmal gut in Physik sein.
Die Köpfe der Menge kamen immer näher. Nicht mehr lange und ich würde fallen. Unwillkürlich musste ich an die verbrannte Frau denken, die vor ein paar Jahren direkt vor meinen Augen aus dem Fenster gestürzt war. Würde ich ebenfalls so enden?
Immer verzweifelter versuchte ich auch den zweiten Flügel einrasten zu lassen. Aber das bei Gegenwind zu tun, der deinen Arm fest an deinen Körper drückt ist gar nicht so einfach. Irgendwann gelang es mir aber doch, den Flügel zumindest aufzufalten. Beinahe sofort riss der Wind meinen Arm empor und drückte mich wieder in eine halbwegs waagrechte Position. Keine Sekunde zu spät. Doch was nun?
Eigentlich hätte ich ja eine zweite Einbuchtung, weiter unten im Podest ansteuern sollen. Aber inzwischen war ich deutlich tiefer. Konnte ich mehrere Meter an Höhe gewinnen? Ich versuchte probeweise mit meinem Flügeln zu schlagen. Soweit ich mich erinnern könnte, musste man davor aber die Verankerung ein Stück weit lösen. Irgendwie links um die Ecke rum. Also, mit dem Arm.

Irgendetwas musste ich aber dennoch falsch gemacht haben, denn als ich meine Arme mit aller Kraft nach unten drückte, ertönte ein unschönes Knirschen. Beinahe sofort bekam ich die ganze, unglaubliche Wucht des Windes zu spüren, während ich dicht über den Köpfen der panischen Menge hinwegrauschte. Obwohl ich versuchte dagegen anzukämpfen, konnte ich nicht verhindern, dass meine Arme wieder nach oben gerissen wurden. Mein linker Flügel rastete erneut ein, mein rechter wurde immer weiter nach oben gedrückt, wo das Gestänge schließlich mit einem hohlen Krachen barst.
Ich versuchte meine Muskeln anzuspannen, um den Flügel auch ohne das Gestänge an Ort und Stelle zu halten. Ich versuchte es wirklich. Aber sich gegen den Wind zu stemmen fühlt sich an als wolle man gegen einen unsichtbaren Riesen kämpfen.
Schon nach wenigen Sekunden musste ich aufgeben. Sofort wurde mein rechter Arm mit einem schmerzhaften Ruck nach oben gerissen. Ich schrie, während der Boden immer näherkam. Die Menge stob auseinander, als sie sah, dass ich landen würde. Oder viel eher, dass ich versuchen würde irgendwie zu landen. Möglichst auf meinen Füßen.
Nur dass auch das deutlich leichter gesagt ist als getan. Vor allem wenn man mit gefühlt siebzig Stundenkilometern der Erde entgegenrast.
Was hatte Dirk mir noch mal über die Landung erzählt? Oder, wie hatten die Rabenkinder das nochmal beim Flug der Raben hingekriegt?

Doch ehe ich mir darüber klar werden konnte, schlitterte ich schon über den plattgetrampelten Wüstensand. Auf dem Bauch, wohlgemerkt.
Als ich zum Stillstand kam liefen sofort neugierige Gaffer herbei, um das Spektakel aus nächster Nähe mitzuerleben.
Ich hatte alles vermasselt.
Mal wieder.

Ich konnte den kalten Sand an meinem Bauch fühlen. Aber immerhin tat mir nichts ernstlich weh. Mit einem langen, innerlichen Seufzer ließ ich meinen Kopf in den Sand sinken. Am liebsten wäre ich für immer so liegengeblieben. Nur die Dunkelheit, meine Haare, der Sand und ich...

Aber ich konnte nicht.
Man kann sich nicht vor seinem Schicksal verstecken. Und vor den Rabenkindern schon gar nicht.
Das hatten sie mich in den letzten Tagen schon oft genug spüren lassen. Entweder ich machte freiwillig mit und wenn nicht, dann eben unfreiwillig. Was ich mir auch vornahm, irgend einen Weg fanden sie immer.
Ich war der Champion. Ihr Champion. Das hieß es war meine Aufgabe ihnen zu Ruhm und Ehre zu verhelfen. Doch bisher hatte ich ihnen nur Schande gebracht.

Ächzend setzte ich mich auf. Vor mir ragte der Turm des Raben hoch in den Himmel. Voller Hass blickte ich zu Rabenklaue hinauf. Von hier aus war er kaum größer als ein Püppchen.  Irgendwann kriege ich dich dich noch, schwor ich mir stumm. Irgendwann! Und dann wirst du tun was ich will! Jawoll, ich kenne dein kleines Geheimnis.

Jeder Flug beginnt mit einem Fall, meiner war tief.

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt